Urteilsanalyse
Unwirksamkeit der Rechtswahl einer ausländischen Rechtsordnung ohne Pflichtteilsrecht
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Die Anwendung des gemäß Art. 22 Abs. 1 EuErbVO gewählten englischen Erbrechts verstößt nach Ansicht des BGH jedenfalls dann gegen den deutschen ordre public i.S.v. Art. 35 EuErbVO, wenn sie dazu führt, dass bei einem Sachverhalt mit hinreichend starkem Inlandsbezug kein bedarfsunabhängiger Pflichtteilsanspruch eines Kindes besteht.

30. Aug 2022

Anmerkung von 
JR Dr. Wolfgang Litzenburger, Notar in Mainz
       
Aus beck-fachdienst Erbrecht 08/2022 vom 24.08.2022

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Sachverhalt

Der Kläger nimmt die Beklagte zu 1 als testamentarische Erbin auf Auskunft über den Bestand und den Wert des Nachlasses des am 26.04.2018 verstorbenen Erblassers John Keith L. in Anspruch.

Der 1936 geborene Erblasser war britischer Staatsangehöriger. Er lebte seit seinem 29. Lebensjahr in Deutschland, wo er auch seinen letzten Wohnsitz hatte. Mit notariell beurkundetem Kindesannahmevertrag vom 30.10.1975, den das Amtsgericht Köln mit Beschluss vom 20.05.1976 gemäß § 1741 BGB in der seinerzeit gültigen Fassung bestätigte, adoptierte der Erblasser den am 09.09.1974 geborenen Kläger. Der Vertrag enthält u.a. folgende Regelung:

„Die Erb- und Pflichtteilsrechte für das Kind und dessen künftige Abkömmlinge nach dem Erstversterbenden der annehmenden Eheleute werden ausgeschlossen.“

Mit notariellem Testament vom 13.03.2015 setzte der Erblasser die Beklagte als Alleinerbin ein und widerrief alle zuvor von ihm errichteten Verfügungen von Todes wegen. Für die Rechtsnachfolge von Todes wegen wählte er das englische Recht als Teilrecht seines Heimatstaates. Der Nachlass besteht aus einer im Inland belegenen Immobilie sowie diversen weiteren Gegenständen. Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das OLG Köln (BeckRS 2021, 15421 mit Anmerkung Litzenburger, FD-ErbR 2021, 441416) die Beklagte verurteilt, dem Kläger Auskunft über den Bestand des Nachlasses des Erblassers durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses zu erteilen, das im Einzelnen alle beim Erbfall vorhandenen Sachen und Forderungen des Erblassers sowie alle Forderungen gegen diesen und alle ergänzungspflichtigen Schenkungen, die der Erblasser in den letzten zehn Jahren vor dem Erbfall getätigt hat, umfasst, und die Werte verschiedener Nachlassgegenstände durch Sachverständigengutachten für den Stichtag 26.04.2018 bestimmen zu lassen und darüber Auskunft zu erteilen, sowie die Klage im Übrigen abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.

Entscheidung: Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des OLG Köln wird zurückgewiesen

Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, einem Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch des Klägers stehe nicht der Umstand entgegen, dass der Erblasser in seinem Testament für die Rechtsfolge von Todes wegen in sein gesamtes Vermögen das englische Recht als Teilrecht seines Heimatstaates gewählt hat.

Gemäß Art. 22 Abs. 1 EuErbVO stand es dem Erblasser frei, für die Rechtsfolge von Todes wegen mit dem englischen Recht das Recht des Staates zu wählen, dem er im Zeitpunkt der Rechtswahl angehörte.

Jedoch ist die Anwendung englischen Rechts jedenfalls im hier zur Entscheidung stehenden Fall mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar (Art. 35 EuErbVO). Denn das englische Recht steht zu der nach deutschem Recht verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch, dass dessen Anwendung im hiesigen Fall untragbar ist. Dies hat zur Folge, dass es hier keine Anwendung findet.

Das Pflichtteilsrecht ist als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen. Das BVerfG hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 19.04.2005 (BVerfGE 112, 332) klargestellt, dass dem Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers unter Verweis auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter i.S.e. grundsätzlich unentziehbaren und bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass zukommt. Die Testierfreiheit des Erblassers unterliegt damit von Verfassungs wegen grundsätzlich auch den durch die Abstammung begründeten familienrechtlichen Bindungen. Das Pflichtteilsrecht hat die Funktion, die Fortsetzung des ideellen und wirtschaftlichen Zusammenhangs von Vermögen und Familie - unabhängig von einem konkreten Bedarf des Kindes - über den Tod des Vermögensinhabers hinaus zu ermöglichen.

Das englische Recht kennt demgegenüber keinen bedarfsunabhängigen und nach festen Quoten berechneten Anspruch eines Abkömmlings nach dem Tod des Erblassers. Ein Pflichtteilsrecht, wie es der deutschen Rechtsordnung entspricht, ist dem englischen Recht fremd.

Die Parteien haben übereinstimmend vorgetragen, dass das englische Recht im Inheritance Act 1975 lediglich eine angemessene finanzielle Beteiligung am Nachlass für Abkömmlinge nur bedarfsabhängig nach richterlichem Ermessen vorsieht. Diese nach englischem Recht vorzunehmende Ermessensentscheidung - u.a. abhängig von der Bedürftigkeit des Abkömmlings und dem letzten Wohnsitz des Erblassers - reichte dem Berufungsgericht mit Recht für die Feststellung aus, dass das englische Recht der in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Garantie einer bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern entgegensteht. Vor diesem Hintergrund genügte hier eine rechtsvergleichende Betrachtung, wie sie das Berufungsgericht vorgenommen hat. Es musste keine Feststellungen dazu treffen, ob die englische Rechtsprechung die Tendenz haben sollte, nach einer Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalles auch volljährigen Kindern eine Beteiligung am Nachlass zukommen zu lassen.

Die hier maßgebliche Frage, ob das Fehlen eines Pflichtteilsanspruchs ohne das Eingreifen kompensatorischer Ansprüche des Anspruchstellers nach englischem Recht gegen den deutschen ordre public verstößt, ist umstritten.

Eine Auffassung geht davon aus, dass sich ein Durchschlagen des deutschen Pflichtteilsrechts auf andere Rechtsordnungen verbietet (vgl. Ayazi, NJOZ 2018, 1041, 1045 ff.; im Ergebnis offenlassend Herzog, ErbR 2013, 2, 5; zurückhaltend Simon/Buschbaum, NJW 2012, 2393, 2395).

Eine andere Ansicht hält einen Verstoß gegen den deutschen ordre public bei einem Pflichtteilsentzug, der sich - wie vorliegend - auf volljährige und wirtschaftlich unabhängige Abkömmlinge beschränkt, im Einzelfall nicht (Ludwig/A. Baetge in jurisPK-BGB, 9. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 9, 17, 21 Stand: 2. März 2022; Röthel in FS v. Hoffmann 2011, S. 348, 361 f.; Staudinger/Dörner, (2007) EGBGB Art. 25 Rn. 726; Staudinger/Beiderwieden, juris PR-IWR 6/2021 Anm. 2) oder erst dann für gegeben, wenn der Betreffende deshalb der deutschen Sozialhilfe zur Last fällt (MünchKommBGB/Dutta, 8. Aufl. EuErbVO Art. 35 Rn. 8 m.w.N.).

Die überwiegende Auffassung nimmt demgegenüber an, dass es der in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG verankerten Garantie einer bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern widerspricht, wenn einem Abkömmling nach dem gewählten Recht kein Anspruch auf Teilhabe am Nachlass zusteht, so dass in diesen Fällen ein offensichtlicher Verstoß gegen den deutschen ordre public vorliegt (vgl. Bauer/Fornasier in Dutta/Weber/Bauer, 2. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 11; BeckOGK/J. Schmidt, EuErbVO Art. 35 Rn. 22.2 [Stand: 1. Februar 2022]; Grüneberg/Thorn, BGB 81. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 2; Hohloch in FS Leipold, 2009 S. 997, 1005; Köhler in Kroiß/Horn/Solomon, Nachfolgerecht 2. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 8; Looschelders in FS v. Hoffmann, 2011, 266, 280; Lorenz in Dutta/Herrler, Die Europäische Erbrechtsverordnung, 2014, Rn. 28; NK-BGB/Looschelders 3. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 25; Pintens in Löhnig/Schwab ua (Hrsg), Erbfälle unter Geltung der Europäischen Erbrechtsverordnung, 2014, S. 1, 29; J. Schmidt in Bamberger/Roth/Hau/Posek, 4. Aufl. Art. 35 EuErbVO Rn. 22.2; Soutier, Die Geltung deutscher Rechtsgrundsätze im Anwendungsbereich der Europäischen Erbrechtsverordnung, 2015, S. 223 ff.; Voltz in Staudinger, BGB (2013), Art. EGBGB Artikel 6 Rn. 190 [Stand: 31. Mai 2021]).

Die letztgenannte Ansicht trifft jedenfalls für den hier zu beurteilenden Sachverhalt aufgrund seines hinreichend starken Inlandsbezuges zu. Allein diese erfüllt die vom BVCerfG aufgestellten Anforderungen an eine bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern. Das Pflichtteilsrecht der Kinder setzt der Testierfähigkeit des Erblassers Grenzen (BVerfG, a.a.O.). Zwar ist die Ausgestaltung und die Höhe des Pflichtteilsanspruchs nicht verfassungsrechtlich vorgegeben. Es muss aber eine unentziehbare angemessene Teilhabe der Kinder am Nachlass des Erblassers gewährleistet werden. Wenn - wie hier - einem Kind des Erblassers nach ausländischem Recht ein Pflichtteil wegen des fehlenden „domicile“ des Erblassers in England kompensationslos versagt wird oder dieser von nicht vorab festgelegten Kriterien, die nicht bedarfsunabhängig sind, abhängt und in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, ist der Kern des Pflichtteils angetastet. Das ist mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar.

Die Existenz von Art. 35 EuErbVO neben Art. 22 EuErbVO spricht dafür, dass der europäische Verordnungsgeber den Schutz des Pflichtteilsberechtigten im Einzelfall für geboten erachtet. Nach Erwägungsgrund Nummer 58 Satz 2 EuErbVO dürfen die Gerichte eines Mitgliedstaates die Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats zwar nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung ausschließen, wenn dadurch gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen würde. Dass aus der Nichtanwendung englischen Rechts - ungeachtet der Frage danach, wie es sich auswirkt, dass England nicht Vertragsstaat der Verordnung geworden ist - ein relevanter Verstoß gegen die Grundrechtecharta folgen würde, ist aber nicht anzunehmen.

Auch aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich nichts Gegenteiliges. Der Kommissionsvorschlag sah in Art. 27 Abs. 2 EuErbVO-E (KOM 2009/0154 endg. - COD 2009/0157) noch vor, dass eine abweichende Regelung des Pflichtteilsanspruchs nicht per se als Verstoß gegen den ordre public qualifiziert werden könne. Der Wegfall der Bestimmung im Verlauf des Legislativverfahrens spricht dafür, dass unterschiedliche Pflichtteilsregelungen unter engen Voraussetzungen die Berufung auf den ordre public rechtfertigen können (vgl. BeckOGK/J. Schmidt, EuErbVO Art. 35 Rn. 22 (Stand: 1. Februar 2022).

Die Argumentation der Revision, es sei nicht richtig, dass sich ein Pflichtteilsanspruch nur in den Fällen durchsetze, in denen die gewählte Zielrechtsordnung überhaupt kein Pflichtteilsrecht vorsehe, während in den Fällen, in denen das gewählte Recht einen Pflichtteilsanspruch vorsehe, der hinter dem deutschen Standard zurückbleibe, übersieht, dass Maßstab für einen Verstoß gegen den ordre public die Frage ist, ob das konkrete Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts zu missbilligen ist (vgl. BGH NJW 1992, 3096 unter III 4 a). Eine pauschale Betrachtungsweise verbietet sich insofern.

Frühere Entscheidungen, die das Bestehen eines familiären Pflichtteils- und Noterbrechts nicht zum deutschen ordre public gezählt und das Fehlen eines Pflichtteils im ausländischen Recht nicht beanstandet haben (vgl. RG JW 1912, 22; BGH NJW 1993, 1920; OLG Hamm ZEV 2005, 436; OLG Köln FamRZ 1976, 170) sind nach der Entscheidung des BVerfG (a.a.O.) überholt.

Soweit im Schrifttum die Auffassung vertreten wird, ein Verstoß gegen den ordre public sei zu verneinen, wenn das Fehlen des Pflichtteilsanspruchs eines Abkömmlings durch Ersatzmechanismen wie die englische „family provision“ kompensiert werde, (vgl. BeckOGK/J. Schmidt, EuErbVO Art. 35 Rn. 22.2 [Stand: 1. Februar 2022]; MünchKommBGB/Dutta, 8. Aufl. EuErbVO Art. 35 Rn. 8 m.w.N), folgt dem der Senat dem nicht. Diese Regelung in Section 2 (1) Inheritance Act ist eine reine Ermessensregelung („the court may“). Ferner hängt das Zuerkennen eines derartigen Ausgleichsanspruchs von zahlreichen Faktoren des Einzelfalles ab, wie sie in Section 3 (1) Inheritance Act aufgelistet werden, insbesondere finanzielle Ressourcen und Bedürfnisse des Antragstellers, weiterer Antragsteller und des Erben, Art und Größe des Nachlasses, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen des Antragstellers und des Erben. Insbesondere bei volljährigen Kindern mit eigenem Einkommen sind englische Gerichte mit dem Zuerkennen eines Anspruchs eher zurückhaltend.

Die Nichtanwendung des an sich berufenen ausländischen Rechts infolge offensichtlicher Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts ist hier gerechtfertigt, weil der zu beurteilende Sachverhalt eine hinreichend starke Inlandsbeziehung aufweist (vgl. BGH NJW-RR 2007, 145 unter III 4 c; ferner BVerfG, NJW 1971, 1509 unter C III 3).

Ein Verstoß gegen den ordre public hat zur Folge, dass die ausländische Rechtsnorm im konkreten Fall keine Anwendung findet. Um zu gewährleisten, dass möglichst geringfügig in das ansonsten weiterhin anzuwendende ausländische Recht eingegriffen wird, sind Lücken zunächst unter Zuhilfenahme der lex causae zu schließen. Da das englische Recht keinen den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG genügenden Anspruch des Klägers auf Teilhabe am Nachlass vorsieht, lässt sich diesem für den hier vorliegenden Fall keine dem deutschen Rechtsverständnis entsprechende äquivalente Lösung entnehmen. Dementsprechend bedarf es des Rückgriffs auf das deutsche Pflichtteilsrecht.

Eine Vorabentscheidung des EuGH ist nicht veranlasst, weil es hier nicht um die Auslegung einer Norm der Europäischen Erbrechtsverordnung im europarechtlichen Kontext geht. Die Besonderheit des Art. 35 EuErbVO besteht nämlich gerade darin, dass die Anwendung des an sich nach der Europäischen Erbrechtsverordnung berufenen Rechts ausscheidet, weil dessen Anwendung mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar wäre. Diese Frage kann nur von dem nationalen Gericht für das jeweilige nationale Recht beantwortet werden.

Praxishinweis

Das OLG Köln hat als Berufungsgericht diese Änderung der Rechtsprechung auf der Grundlage der Entscheidung des BVerfG vom 19.4.2005 (NJW 2005, 1561) zur verfassungsrechtlichen Verankerung des deutschen Pflichtteilsrechts initiiert. Der IV. Senat des BGH ist dessen Argumentation in fast allen Punkten uneingeschränkt gefolgt. Diese Rechtsprechung wird weitreichende Folgen für die Wahl von allen Rechtsordnungen gemäß Art. 22 EuErbVO haben, die kein Mindest- oder dem deutschen Recht ebenbürtiges Pflichtteilsrecht haben. Auch wenn der Senat hierzu nicht abschließend Stellung genommen hat, so ist davon auszugehen, dass auch bei hinter dem deutschen Pflichtteilsrecht zurückbleibenden Mindest- oder Pflichtteilsansprüchen die Nichtanwendbarkeit des gewählten Rechts die Folge sein wird. Selbst kompensierenden Ansprüchen, die im Ermessen der ausländischen Gerichte stehen, steht der Senat skeptisch gegenüber. Allenfalls dann, wenn im konkreten Fall ein dem deutschen Pflichtteil entsprechender Geldanspruch gegeben sein sollte, könnte eine solche Rechtswahl mit dem deutschen ordre public vereinbar sein.

Folgerichtig hat sich die erbrechtliche Gestaltungspraxis darauf einzustellen, dass mit einer Rechtswahl auf der Grundlage des Art. 22 EuErbVO sich aus dem deutschen Recht ergebende Pflichtteilsansprüche weder vermeiden noch reduzieren lassen. Auch bei Sachverhalten mit einem Auslandsbezug sollten deshalb lebzeitige Schenkungen ohne Nutzungsvorbehalt an andere Personen als Ehepartner erwogen werden. Die Rechtswahl nach Art. 22 EuErbVO ist nach dieser Entscheidung kein probates Gestaltungsmittel.


BGH, Urteil vom 29.06.2022 - IV ZR 110/21, BeckRS 2022, 17575