Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 07/2022 vom 01.04.2022
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Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die beim Kläger zu berücksichtigenden Pflichtbeitragszeiten auf seinem Rentenversicherungskonto. Der Kläger erlitt am 08.06.1993 einen Motorradunfall, den gemäß einer Entscheidung des Oberlandesgerichts der Unfallgegner zu 80 % verschuldet hatte. Der Verdienstausfallschaden des Klägers mit dem Schädiger wurde auf Basis dieser Haftungsgrundlage abgerechnet. Nach einer Rentenauskunft, die dem Kläger zu niedrig erschien, lehnte es die beklagte DRV ab, die gespeicherten Beitragszeiten um die aus dem Regress zu erhöhen. Ihre angenommene Haftungsquote von 2/3 sei anders als die zivilgerichtliche Würdigung und entspreche der Haftungsverteilung in vergleichbaren Fällen. Es bestehe keine Rechtsnorm, die eine Bindung des Regresses durch den Rentenversicherungsträger an die Regelung der Direktregulierung vorsehe. Eine Anhebung im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei nicht möglich.
Gegen den ebenfalls ablehnenden Widerspruch erhob der Kläger Klage. Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, den konkret ermittelten Verdienstausfallschaden und die Haftungsquote bei der Berechnung des Beitragsregresses gem. § 119 SGB X zu berücksichtigen. Die Beklagte habe sich über die berechtigten Interessen des Klägers nicht hinwegsetzen dürfen. Sie sei verpflichtet gewesen, sich über die Haftungsquote zu informieren, um den Versicherten vor einer drohenden Rentenkürzung zu bewahren. Der Kläger verlangt unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte zu verpflichten, das Rentenversicherungskonto entsprechend aufzufüllen.
Entscheidung
Das SG gibt der Klage statt und verpflichtet die Beklagte das Rentenkonto des Klägers entsprechend einer Haftungsquote von 80 % für den Verdienstausfall aus dem Unfall vom 08.06.1993 bis zum Eintritt in den Altersruhestand aufzufüllen. Die Beklagte habe den Beitragsregress rechtswidrig fehlerhaft errechnet. Dies sei im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu korrigieren und nicht nur im Wege der Amtshaftung. Die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei wie in diesem, in Fällen, in denen sich der Rentenversicherungsträger „hinter dem Rücken des Versicherten zu dessen Lasten vergleicht, die Umstände der Kontaktaufnahme mit der gegnerischen Versicherung und die mündlichen Vergleichsvereinbarungen nicht hinreichend in seinen Akten dokumentiert sind und der Betroffene erst zeitlich verzögert vor vollendete Tatsachen gestellt wird“, sachgerecht.
Die Beklagte hat ihre Pflichten verletzt, indem sie eine abweichende Haftungsquote dem Beitragsregress zugrunde gelegt hat. Die Beklagte hat hier die Rechtsposition eines gesetzlich bestimmten fremdnützigen Treuhänders des Pflichtversicherten geschädigt. Sie kann sich nicht darauf berufen, mit dem Schädiger einen Vergleich abgeschlossen zu haben. Die getroffene Vereinbarung verstößt gegen § 119 Abs. 3 Satz 2 SGB X, wonach der Versicherte durch den Übergang des Anspruchs auf Beiträge nicht schlechter gestellt werden darf.
Praxishinweis
1. Das SG stellt zutreffend fest, dass die Landessozialgerichte bisher in diesen Fällen einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht bejaht haben, sondern die Betroffenen auf die Amtshaftung verwiesen haben (vgl. u.a. LSG Baden-Württemberg, BeckRS 2007, 44389). Das LSG Hessen hat dagegen mit Beschluss vom 31.08.2021 (BeckRS 2021, 35745) dem Versicherten einen Anspruch auf „Auffüllung“ der Rente im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bestätigt, soweit der Rentenversicherungsträger seine Pflichten bei der Durchsetzung des Beitragsregresses gem. § 119 SGB X zu Lasten des Geschädigten verletzt hat.
2. Der BGH hat mit Urteil vom 21.08.2018 (BeckRS 2018, 25175) Ansprüche aus Amtshaftung gem. Art. 34 GG, § 839 BGB bejaht. Mit sehr einleuchtenden Argumenten betont das SG, dass die Korrektur im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs durchaus sachgerecht ist, zumal die Verfahren vor den Sozialgerichten „klägerfreundlicher“ ausgestaltet sind, z.B. was die Gerichtskostenfreiheit gem. § 183 SGG anlangt. Allerdings bleibt die Frage, ob der Geschädigte schon vor Eintritt der Altersrente auf eine „Auffüllung“ im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs klagen kann oder ob der Herstellungsanspruch – so wie vom LSG Hessen vertreten – erst dann zum Tragen kommen kann, wenn durch den unterbliebenen Beitragsregress ein auf den Unfall zurückzuführender „Rentenschaden“ eingetreten ist. Nach BGH vom 20.12.2016 (FD-SozVR 2017, 387666) würde dies auch einen Ersatzanspruch gegen den Schädiger auslösen. Meines Erachtens hat aber der Anspruch des Versicherten gegen den Rentenversicherungsträger Vorrang.
SG Itzehoe, Urteil vom 26.08.2021 - S 3 R 307/17, BeckRS 2021, 43048