NJW-Editorial
Ungehorsame Gerichte
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Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur prozessualen Waffengleichheit bei Erlass einstweiliger Verfügungen ohne vorherige Anhörung wird von einzelnen Spruchkörpern beharrlich ignoriert. Dieser „gerichtliche Ungehorsam“ ist rechtsstaatlich bedenklich – und Karlsruhe daher zurecht erbost.

16. Mrz 2022

Weitgehend unbemerkt vollzieht sich seit einigen Jahren ein Ungehorsam der besonderen Art: Das BVerfG hat erstmals im Jahr 2017 festgestellt, dass die Praxis vieler Gerichte, einstweilige Verfügungen regelmäßig im Beschlusswege und ohne vorherige Anhörung der Antragsgegners zu erlassen, nicht mit dem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit zu vereinbaren ist (NJW 2017, 2985). Wenige Jahre später wurde dann erstmals die Wirksamkeit einer einstweiligen Verfügung des LG Berlin ausgesetzt (NJW 2020, 2021). Weitere Entscheidungen folgten, wobei nicht alle Verfassungsbeschwerden und Anträge nach § 32 I BVerfGG von Erfolg gekrönt waren (Übersicht hier). Mal scheiterte es an der Rechtswegerschöpfung, mal an dem Feststellungsinteresse. Auffällig ist, dass vor allem diejenigen auf Karlsruhe setzen konnten, die sich gegen einstweilige Verfügungen zweier Spruchkörper wandten: Solche der für das Presserecht zuständigen 27. Zivilkammer des LG Berlin sowie solche des 7. Zivilsenats ("Pressesenat") des OLG Hamburg. Die beiden Spruchkörper an Elbe und Spree zeigten sich davon indes gänzlich unbeeindruckt und "arbeiteten" unbeirrt weiter wie bisher. Einseitige "Geheimverfahren mit nur einem Beteiligten - und nur einem Rechtsanwalt - sind eben angenehmer zu führen als streitige Auseinandersetzungen mit umfangreichen Schriftsätzen beider Parteien.

Das BVerfG war angesichts dieses Beharrungsvermögens verärgert. Der Ton wurde harscher: Zunächst bekam es das LG Berlin ab: "Dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zentrale Bedeutung für ein rechtsstaatliches und faires gerichtliches Verfahren besitzt, hat die Kammer dem LG Berlin in nunmehr drei jüngeren Entscheidungen mitgeteilt" (BeckRS 2021, 5190). Noch deutlicher fällt die jüngste Ansage an das OLG Hamburg aus (GRUR-RS 2021, 45457): "Der wiederholte Verstoß des Pressesenats [.] gibt Anlass, auf die rechtliche Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG hinzuweisen. [.] Bei zukünftigen Verstößen [.] wird die Kammer ein Feststellungsinteresse für eine Verfassungsbeschwerde oder einen Antrag auf einstweilige Anordnung [.] stets als gegeben ansehen." Das ist deutlich mehr als nur ein Rüffel.

So wie die Gewährung rechtlichen Gehörs zentrale Bedeutung für ein rechtsstaatliches und faires gerichtliches Verfahren hat, kommt der Umsetzung der Entscheidungen des BVerfG zentrale Bedeutung für das Funktionieren des Rechtsstaates zu. Diese binden die Verfassungsorgane sowie alle Gerichte und Behörden, einigen kommt sogar nach  § 31 II BVerfGG Gesetzeskraft zu. So ausgeprägt die Rechtsmacht auch ist, mit der das BVerfG von der Verfassung ausgestattet wurde, so sehr ist dieses auf den Schutz und Respekt aller angewiesen. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Erkenntnis auch bei den Fachgerichten durchsetzt und das Verhältnis der Gerichte zukünftig kooperativ und nicht konfrontativ verstanden wird.

Dr. Mirko Möller, LL.M., ist Rechtsanwalt und Notar in Dortmund.