Anmerkung von
JR Dr. Wolfgang Litzenburger
Aus beck-fachdienst Erbrecht 04/2023 vom 24.04.2023
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Sachverhalt
Die Beteiligten erstreben eine Klärung der Erbfolge im Erbscheinverfahren.
Der Erblasser ist 2018 verstorben, ohne eine letztwillige Verfügung zu hinterlassen. Die Beteiligte zu 1 ist die Witwe des Erblassers, der Beteiligte zu 2 ein gemeinsames Kind. Sämtliche Abkömmlinge des Erblassers schlugen durch notariell beglaubigte Erklärungen gegenüber dem Nachlassgericht die Erbschaft fristgerecht aus.
Daraufhin beantragte die Beteiligte zu 1 zunächst einen Erbschein, durch den sie als Alleinerbin aufgrund gesetzlicher Erbfolge ausgewiesen werden sollte. Nachdem das Nachlassgericht die Beteiligte zu 1 darauf hingewiesen hatte, dass sie gemäß § 1931 Abs. 1 BGB nur Alleinerbin sei, soweit weder Erben der ersten und zweiten Ordnung noch Großeltern vorhanden seien, focht der Beteiligte zu 2 seine Ausschlagungserklärung durch notariell beglaubigte Erklärung fristgerecht wegen Irrtums mit folgender Begründung an:
„Ich und meine Geschwister haben die Erbschaft ausgeschlagen, weil wir davon ausgingen, dass somit unsere Mutter …. Alleinerbin ist und somit auch als Alleineigentümerin der Eigentumswohnung … eingetragen wird. Nunmehr erhielt ich Kenntnis darüber, dass durch die Ausschlagungserklärung sämtlicher Kinder unseres Vaters dessen Halbgeschwister erben.
Diese Halbgeschwister sind weder meiner Mutter, meinen Geschwistern oder mir namentlich bekannt. Auch mein Vater hatte zu diesen Halbgeschwistern keinen Kontakt. Erst mit der Mitteilung des Nachlassgerichts … erfuhr ich durch meine Mutter am 2. Oktober 2018, dass die Halbgeschwister meines Vaters durch meine Erbausschlagung erben.“
Daraufhin beantragte die Beteiligte zu 1 einen gemeinschaftlichen Erbschein für sie und den Beteiligten zu 2 als Miterben zu 1/2.
Auf den Hinweis des Nachlassgerichts, dass es die Anfechtungserklärung nicht als wirksam erachte, da es sich um einen unbeachtlichen Motivirrtum handele, erklärte der Beteiligte zu 2:
„Bei der Ausschlagung der Erbschaft ging ich davon aus, dass die Erbschaft der übrig bleibenden Miterbin, meiner Mutter, übertragen wird. Mir war nicht bekannt, dass die Erbschaft durch meine Ausschlagung demjenigen anfällt, welcher berufen gewesen wäre, wenn ich und meine Geschwister zur Zeit des Erbfalls nicht gelebt hätten.“
Ferner erklärten die Beteiligten, der Beteiligte zu 2 sei im Zeitpunkt der Ausschlagung der Auffassung gewesen, dass durch seine Ausschlagung und diejenige seiner Geschwister die Erbanteile der Beteiligten zu 1 übertragen würden. Er sei also der Auffassung gewesen, dass diese Erbteile ihr anwachsen würden.
Den Erbscheinsantrag hat das Nachlassgericht zurückgewiesen. Das OLG Hamm (BeckRS 2022, 14901) ist der Ansicht, der Beteiligte zu 2 sei nicht neben der Beteiligten zu 1 zur Erbfolge gelangt, gefolgt, da er die Erbschaft wirksam ausgeschlagen habe und die Wirkung der Ausschlagung nicht durch seine Anfechtungserklärung beseitigt worden sei.
Entscheidung: Die Wirkung der Ausschlagung ist nicht durch die Anfechtung der Ausschlagungserklärung beseitigt worden.
Die Wirkung der Ausschlagung ist nicht durch die Anfechtungserklärung des Beteiligten zu 2 beseitigt worden. Die Ausschlagung der Erbschaft kann ebenso wie deren Annahme nur nach den allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen unter Lebenden gemäß §§ 119 ff. BGB angefochten werden. Die Sonderregeln der §§ 1954, 1955 und 1957 BGB ändern oder erweitern die Anfechtungsgründe nicht (BGH NJW 2006, 3353).
Von diesen Grundsätzen ausgehend hat das Beschwerdegericht zu Recht angenommen, dass sich der Beteiligte zu 2 bei Abgabe der Ausschlagungserklärung nicht in einem allein in Betracht kommenden Irrtum im Sinne des § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB befand. Ein Inhaltsirrtum kann zwar auch darin gesehen werden, dass der Erklärende über Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt, weil das Rechtsgeschäft nicht nur die von ihm erstrebten Rechtswirkungen erzeugt, sondern solche, die sich davon unterscheiden. Ein derartiger Rechtsirrtum berechtigt aber nur dann zur Anfechtung, wenn das vorgenommene Rechtsgeschäft wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt (vgl. BGH ZEV 2016, 574 Rn. 11). Der nicht erkannte Eintritt zusätzlicher oder mittelbarer Rechtswirkungen, die zu den gewollten und eingetretenen Rechtsfolgen hinzutreten, ist dagegen kein Irrtum über den Inhalt der Erklärung mehr, sondern ein unbeachtlicher Motivirrtum.
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist der Beteiligte zu 2 keinem Irrtum über die unmittelbaren Rechtswirkungen der Ausschlagung erlegen. Dass er sich über die konkrete Person des Nächstberufenen geirrt hat, begründet unabhängig davon, welche rechtlichen oder tatsächlichen Fehlvorstellungen dem zugrunde lagen lediglich einen unbeachtlichen Motivirrtum.
Die Frage, ob im Falle einer solchen „lenkenden Ausschlagung“, bei der es dem Ausschlagenden gerade um den Eintritt des Anfalls an einen bestimmten Dritten ankommt, ein Irrtum darüber, wem der Erbteil infolge der Ausschlagung anfällt, einen Irrtum über die mittelbaren oder unmittelbaren Rechtsfolgen darstellt, ist umstritten.
Eine Auffassung sieht den Irrtum über die nächstberufene Person stets als einen Irrtum über die unmittelbaren Rechtsfolgen der Ausschlagung und damit als einen beachtlichen Inhaltsirrtum an (OLG Düsseldorf ZEV 2019, 469; wohl auch, im Ergebnis aber offenlassend OLG Frankfurt ZEV 2021, 507; ebenfalls offengelassen von OLG Brandenburg ZEV 2022, 716; BeckOGK/ Rehberg, BGB § 119 Rn. 105 [Stand: 1. September 2022]; MünchKommBGB/Leipold, 9. Aufl. § 1954 Rn. 7; Staudinger/Singer, BGB (2021) § 119 Rn. 73; Ivo ZEV 2017, 518, 519; Keim ZEV 2020, 393, 400 f.).
Eine andere Auffassung geht in diesen Fällen hingegen nur von einem Irrtum über die mittelbaren Rechtsfolgen der Ausschlagung und damit von einem unbeachtlichen Motivirrtum aus (KG ZEV 2020, 152; OLG Frankfurt ZEV 2017, 515; OLG Hamm FGPrax 2011, 236; OLG München NJW 2010, 687; OLG Schleswig ZEV 2005, 526; OLG Hamm ZEV 1998, 225; OLG Düsseldorf NJW-RR 1998, 150, 151; BeckOGK/Heinemann, BGB § 1954 Rn. 25 Stand: 15. Dezember 2022; BeckOK-BGB/Siegmann/Höger, § 1954 Rn. 7 [Stand: 1. Mai 2022]; Staudinger/Otte, BGB (2017) § 1954 Rn. 6 [Stand: 30. April 2021]; Naczinsky in Soergel, BGB 14. Aufl. § 1954 Rn. 3; Eickelberg ZEV 2018, 489, 495; Kollmeyer ZEV 2021, 509; Musielak, ZEV 2016, 353, 356).
Die letztgenannte Auffassung trifft zu. Es liegt ein Motivirrtum vor, der nicht zur Anfechtung berechtigt.
Dafür sprechen Systematik und Wortlaut des § 1953 BGB. Unmittelbare Rechtsfolgen der Ausschlagung sind danach der Wegfall der Erbenstellung bei dem Ausschlagenden und der Anfall bei einer anderen Person. Wer die Person des Nächstberufenen ist, regelt § 1953 BGB nicht unmittelbar.
Die Ausschlagung bewirkt, dass der Ausschlagende die ihm zugedachte Rechtsstellung aufgibt und diese Rechtsstellung dem Nächstberufenen anfällt. Die konkrete Bestimmung der nachrückenden Person regelt § 1953 Abs. 2 BGB nicht. Sie richtet sich nach den Vorschriften über die gesetzliche Erbfolge oder im Rahmen der gewillkürten Erbfolge vorrangig nach der Testamentsauslegung und nachrangig nach den §§ 2069, 2094 BGB. § 1953 Abs. 2 BGB stellt sich lediglich als Vorgabe für die weitere Rechtsanwendung dar. Ein Irrtum darüber führt damit lediglich zu einer fehlerhaften Anwendung der Vorschriften über die gesetzliche oder gewillkürte Erbfolge, nicht jedoch über die wesentliche und unmittelbare Rechtswirkung der Ausschlagung (vgl. KG ZEV 2020, 152 Rn. 27; OLG Frankfurt ZEV 2017, 515 Rn. 16; OLG Hamm FGPrax 2011, 236).
Dafür spricht auch der Sinngehalt des Wortes „ausschlagen“. Dieser beinhaltet für den juristischen Laien, dass der Ausschlagende nicht mehr Erbe sein will und er durch die Ausschlagung seine Erbenstellung an eine andere Person verliert (vgl. OLG Schleswig ZEV 2005, 526), nicht aber, dass anstelle des Ausschlagenden ein bestimmter Dritter Erbe werden soll.
Der Umstand, dass die konkrete Person des Nächstberufenen nach den Vorschriften über die gesetzliche oder gewillkürte Erbfolge ermittelt werden muss, führt nicht dazu, dass der Nachlass herrenlos wird. § 1953 Abs. 2 BGB fingiert schließlich den Anfall der Erbschaft für den endgültigen Erben auf den Zeitpunkt des Erbfalls (BGH ZEV 2023, 103 Rn. 22 m.w.N.).
Eine Rechtsfolge wird auch nicht dadurch zu einer unmittelbaren, dass sie der Hauptgrund für die Erklärung der Ausschlagung war (KG ZEV 2020, 152 Rn. 27; Lange ZEV 2022, 527, 528). Die Rechtsfolge anhand der Vorstellung und Absicht des Ausschlagenden, mit der Ausschlagung falle die Erbschaft einer bestimmten anderen Person an, zu qualifizieren, führte sie zudem dem Inhalt der Ausschlagungserklärung zu, der hier allerdings ausschließlich darin besteht, die Erbschaft nicht anzunehmen. Die unmittelbaren Rechtsfolgen der Ausschlagung beruhen nicht auf der Willensentschließung des Ausschlagenden (Vgl. BGH NJW 2008, 2442 Rn. 18 zur Grundstückszwangsversteigerung), sondern ergeben sich aus § 1953 BGB.
Die Einschränkung der Anfechtungsmöglichkeit im vorliegenden Fall ist überdies im Interesse der Rechtssicherheit erforderlich. Die erweiterte Anfechtungsmöglichkeit widerspräche der besonderen Interessenlage bei der Ausschlagung, den durch den Vonselbsterwerb (§ 1922 Abs. 1 BGB) herbeigeführten Schwebezustand durch Annahme oder Fristablauf nach verhältnismäßig kurzer Zeit zu beseitigen. Die Anfechtbarkeit wegen eines Rechtsfolgenirrtums ist deshalb auf die Fälle zu begrenzen, in denen sich – anders als hier – die Rechtsfolge, auf die sich der Irrtum bezieht, nach der gesetzlichen Regelung und Systematik unmittelbar aus dem Rechtsgeschäft bzw. der Willenserklärung ergibt, und hierdurch die Stabilität des Erbschaftserwerbs zu erzielen (vgl. Schmidt, ErbR 2022, 929, 930 f.).
Auch die Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs und das Leitbild des historischen Gesetzgebers bestätigen den strengen Umgang mit der Anerkennung von Ausschlagungsanfechtungen und die Verantwortung des Ausschlagenden, sich vor Abgabe der Erklärung über die Umstände des Erbfalls rechtlich und tatsächlich kundig zu machen. So besagen die Motive, dass eine allgemeine Anfechtung der Ausschlagungserklärung wegen Irrtums nicht zugelassen sei. Nach allgemeinen Grundsätzen bleibe es Sache des Ausschlagenden, sich vor seiner Entscheidung die vollständige Kenntnis von den letztwilligen Verfügungen des Erblassers zu verschaffen. Ihm könne nicht gestattet werden, weil er seine Lage wegen ihm unbekannt gebliebener letztwilliger Verfügungen des Erblassers verkannt habe, nachträglich die Rechte derjenigen, an welche in Folge seiner Ausschlagung ein Anfall erfolgt sei, in Frage zu stellen (vgl. zu §§ 2040, 2041 BGB-E Mugdan S. 273).
Praxishinweis
Mit Recht hatte das OLG Hamm die Frage nach der Anfechtbarkeit der sog. lenkenden Ausschlagung im Falle des Irrtums über den nächstberufenen Erben als „hoch umstritten“ bezeichnet. Schon deshalb ist die Klärung durch den Bundesgerichtshof zu begrüßen, und zwar selbst dann, wenn man seine Auffassung nicht teilt. Denn die Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung zu dieser Frage war nicht länger hinnehmbar, weil sie die Rechtssicherheit gefährdete.
Deshalb ist an der Begründung des Senats hervorzuheben, dass gerade das Interesse der Allgemeinheit an der Rechtssicherheit bei der Bestimmung der Erbfolge es verbiete, den schwer zu erforschenden Motiven bei (je)der Ausschlagung der Erbschaft eine rechtliche Bedeutung beizumessen. Gerade der entschiedene Fall belegt musterhaft wie langwierig ein derartiger Klärungsprozess verlaufen kann. Unabhängig von den dogmatischen und historischen Argumenten des Senats ist diese höchstrichterliche Grundsatzentscheidung schon deshalb ein Gewinn für die Rechtssicherheit.
Weniger überzeugend ist dagegen die Abgrenzung der unmittelbaren Rechtsfolgen von den nur mittelbaren Folgen durch Hinweis auf den begrenzten Regelungsinhalt des § 1953 BGB. Dass sich diese Norm ausschließlich mit den Anfechtungsbesonderheiten gegenüber den Vorschriften des Allgemeinen Teils befasst, ist gesetzestechnisch begründet, rechtfertigt es für sich betrachtet aber nicht, deshalb das Eingreifen der gesetzlichen bzw. gewillkürten Erbfolgeregeln als mittelbare Rechtsfolgen abzuqualifizieren. Dieses Argument erscheint doch allzu formalistisch. Die anderen Argumente wiegen deutlich schwerer.
Vor der sog. „lenkenden Ausschlagung“ muss nach dieser Grundsatzentscheidung ab sofort gewarnt werden. Selbst eine vorhergehende fachkundige Beratung kann nämlich nicht vor unliebsamen tatsächlichen Überraschungen, nämlich dem Auftauchen bislang unbekannter Erben (z.B. außereheliche, verschwiegene Kinder), schützen. Vor diesem Hintergrund und auf der Grundlage dieser höchstrichterlichen Entscheidung sollte der Wunsch der Weiterleitung immer auf anderen Wegen realisiert werden, insbesondere durch Erbteilsübertragungen, und zwar trotz der erbschaftsteuerlichen Nachteile, die damit verbunden sind. Noch besser wäre es natürlich die Erbfolge gar nicht erst – wie hier – den gesetzlichen Regeln zu überlassen, sondern durch wohl überlegte Verfügung von Todes wegen selbst zu bestimmen. Dann braucht es keiner „lenkenden Ausschlagung“ mehr.
BGH, Beschluss vom 22.03.2023 - IV ZB 12/22, BeckRS 2023, 7397