Urteilsanalyse
Umstellung laufender Rentenleistungen auf Kapitalleistungen
Urteilsanalyse
SM_urteil_CR_FM2_adobe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
SM_urteil_CR_FM2_adobe

Die teilweise Umstellung einer Rentenzusage auf eine Kapitalzusage bedarf nach Ansicht des BAG einer eigenständigen Rechtfertigung anhand der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit.

10. Okt 2023

Anmerkung von
RA Prof. Dr. Martin Diller, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 39/2023 vom 05.10.2023

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des wöchentlich erscheinenden Fachdienstes Arbeitsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Arbeitsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Arbeitsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

 

Sachverhalt

Der im Jahr 1957 geborene Kläger war seit 1988 bei dem beklagten Chemieunternehmen tätig. Im Jahr 1995 wurde ihm eine Altersversorgung in Form einer lebenslangen Rente zugesagt. Im Jahr 2004 strukturierte die Beklagte ihr Altersversorgungssystem grundlegend neu und stellte auf ein beitragsorientiertes Versorgungssystem mit Kapitalleistungen um. Für Mitarbeiter, die wie der Kläger bereits vor 2004 eingetreten waren, gab es verschiedene Übergangsregelungen. Letztlich wirkten sich die Neuregelungen für den Kläger so aus, dass ihm bei Erreichen der Altersgrenze eine monatliche Rente von 1.945 EUR und ein Einmalkapital von 110.727 EUR zzgl. einer Überschussbeteiligung von 44.000 EUR zustand. Auf der Basis der ursprünglichen Versorgungszusage hätte der Kläger hingegen eine laufende Rente von 2.628 EUR erhalten.

Der Kläger machte geltend, die Umstellung greife unzulässig in seine Versorgungsanwartschaft ein. Sie verletze die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit. Demgegenüber berief sich die beklagte Arbeitgeberin darauf, dass die Neuregelung insgesamt für den Kläger finanziell nicht ungünstiger sei. Auch sei die Umstellung der Versorgungswerke durch ein Vereinheitlichungsinteresse des Arbeitgebers gedeckt, der nicht auf Jahrzehnte hinaus altes und neues Versorgungssystem getrennt fortführen wolle.

ArbG und LAG hatten der Klage stattgegeben.

Entscheidung

Das BAG hob die Entscheidung des LAG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung ans LAG zurück. Das LAG habe es versäumt, festzustellen, ob die Leistungen, die der Kläger aus dem neuen System erhalte, bei Umrechnung der Kapitalleistung in eine laufende Rente höher oder niedriger sei als die Rente, die er unter dem alten System erhalten hätte. Je nachdem, ob die Leistungen aus der neuen Versorgungszusage höher oder niedriger als die aus der alten Versorgungszusage ausfielen, seien unterschiedliche Anforderungen an die Rechtfertigung der Umstellung zu stellen und eine andere Interessenabwägung vorzunehmen. Im Übrigen habe das LAG bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt, dass es vorliegend nicht um die vollständige Ersetzung einer laufenden Rentenleistung durch eine Einmalkapitalleistung gehe. Vielmehr betreffe im vorliegenden Fall die Umstellung auf Kapitalleistung nur ca. ein Viertel des Rentenanspruchs. In einem solchen Fall seien im Rahmen der Interessenabwägung an die Rechtfertigung der Umstellung geringere Anforderungen zu stellen.

Praxishinweis

Jeder Jurist lernt es im Studium: Das Recht hat eine Doppelfunktion. Es geht um Herstellung materieller Gerechtigkeit, zugleich aber auch darum, den Rechtssubjekten einen verlässlichen Rahmen an die Hand zu geben, an dem sie ihr Handeln ausrichten können. Das vorliegende Urteil treibt den Gedanken der Einzelfallgerechtigkeit auf die Spitze, zerstört damit aber jegliche Berechenbarkeit der Ergebnisse. Es ist schon grundsätzlich verfehlt, die Wirksamkeit der Umstellung eines Versorgungssystems nicht schon zum Zeitpunkt der Umstellung zu prüfen, sondern zunächst abzuwarten, was sich 10, 20 oder 30 Jahre nach der Umstellung tatsächlich an Leistungen aus dem neuen Versorgungssystem ergibt, und diese dann den fiktiven Leistungen gegenüberzustellen, die sich bei Fortführung des alten Systems ergeben hätten (was hypothetische Betrachtungen bis hin zu Gehaltstrends, Beförderungswahrscheinlichkeiten etc. erfordert). Und genauso verfehlt ist es, dann auch noch individuell für jeden Arbeitnehmer (und nicht kollektiv für alle Betroffenen) eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen. Denn die Konsequenz von alldem ist: Arbeitgeber und Betriebsrat, die ein Versorgungswerk ändern wollen, haben auf der Basis dieser Rechtsprechung keinerlei Möglichkeit, im Zeitpunkt der Änderung selbst festzustellen oder gerichtlich feststellen zu lassen, ob die Änderungen wirksam sind oder nicht. Solche Vabanque-Spiele darf sich ein Rechtsstaat nicht leisten. Für die Prüfung, ob ein Rechtsgeschäft wegen Sittenwidrigkeit nichtig ist (§ 138 BGB), kommt es nach einhelliger Auffassung auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses an. Warum soll für die Prüfung, ob die Änderung eines betrieblichen Versorgungswerkes verhältnismäßig ist, etwas anderes gelten?

BAG, Urteil vom 20.06.2023 - 3 AZR 231/22 (LAG Düsseldorf), BeckRS 2023, 23982