Urteilsanalyse
Umfang der Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts
Urteilsanalyse
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Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts ist nach der Rechtsprechung des BGH hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung nicht auf den Umfang beschränkt, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt.

25. Okt 2023

Anmerkung von
Richter am Kammergericht Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 21/2023 vom 20.10.2023

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Sachverhalt

Ein LG meint, es sei an eine Beweiswürdigung des AG gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen seien. Die Berufungsbegründung des B zeige derartige Anhaltspunkte nicht auf. Gegen diese Sichtweise wendet sich B mit einer Nichtzulassungsbeschwerde. Mit Erfolg.

Entscheidung: Das LG hat grundlegend den Prüfungsmaßstab des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO verkannt!

Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO sei das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfalle aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründeten und deshalb eine erneute Feststellung geböten (Hinweis auf § 529 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 2 ZPO).

Konkrete Anhaltspunkte idS seien alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Derartige konkrete Anhaltspunkte könnten sich ua aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften auch aus dem Vortrag der Parteien in der Berufungsinstanz ergeben (Hinweis auf BGH NJW-RR 2019, 1343 Rn. 11 = FD-ZVR 2019, 421562 (Ls.)). Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung sei indes nicht auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt (Hinweis ua auf BGH NJW-RR 2017, 75 Rn. 24 = FD-ZVR 2016, 384433 mAnm Elzer). Vielmehr seien auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte bestünden, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig seien. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen könnten sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdige als das Gericht der Vorinstanz. Bestehe aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben werde, sei es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (Hinweis ua auf BGH GRUR 2021, 971 Rn. 28).

Praxishinweis

Die Entscheidung entspricht der ständigen BGH-Rechtsprechung. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich seiner Ansicht nach um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls bestehe. Ein Berufungsgericht habe deshalb die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Es dürfe Einwendungen gegen die erstinstanzliche Beweiswürdigung zB nicht mit der Begründung als unbeachtlich ansehen, sie setze lediglich ihre eigene Würdigung an die Stelle derjenigen des Erstgerichts (BGH NJW-RR 2017, 725 Rn. 21 = FD-ZVR 2017, 388473 (Ls.); BGH NJW 2016, 713 Rn. 7 = FD-ZVR 2016, 376396 mAnm Elzer). Außerdem müsse die Berufungsinstanz stets erwägen, ob sich Zweifel an den erstinstanzlichen Feststellungen ergeben, weil aus seiner Sicht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass sich diese Feststellungen im Fall der Beweiserhebung als unrichtig erwiesen. Entsprechendes gelte für Schätzungen (BGH NZM 2021, 88 Rn. 23 = FD-ZVR 2021, 437566 mAnm Elzer).

BGH, Beschluss vom 08.08.2023 - VIII ZR 20/23 (LG München II), BeckRS 2023, 24760