Urteilsanalyse
Übernahme der SV-Beiträge während KUG auch bei vorläufiger Insolvenz
Urteilsanalyse
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Nach § 2 Abs. 1 KugV steht die Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen nicht im Ermessen der Bundesagentur für Arbeit, so das LSG Bayern. Ein solcher Anspruch kann auch dann gegeben sein, wenn sich das Unternehmen im vorläufigen Insolvenzverfahren befindet. Dem Anspruch auf Erstattung der SV-Beiträge gemäß § 2 Abs. 1 KugV kann danach nicht entgegengehalten werden, dass nach erfolgter Insolvenzanfechtung u.U. ein Anspruch auf Rückgewähr der gezahlten Sozialversicherungsbeiträge in Betracht kommt.

26. Jul 2021

Anmerkung von

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 14/2021 vom 16.07.2021

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Sachverhalt

Streitig ist die Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen während des Bezugs von Kurzarbeitergeld (KUG) an die Antragstellerinnen. Die Antragstellerin zu 1. ist eine operativ tätige Gesellschaft, die Modemärkte in Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz betreibt. Die Antragstellerinnen zu 2. und 3. sind jeweils einhundertprozentige Tochtergesellschaften der Antragstellerin zu 1. Bei der Antragstellerin zu 1. waren im Februar 2021 2.097 Arbeitnehmer beschäftigt, bei der Antragstellerin zu 2. 176 und bei der Antragstellerin zu 3. 75 Arbeitnehmer. Auf dem Antrag aller Antragstellerinnen auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das eigene Vermögen vom 11.01.2021 ordnete das AG Aschaffenburg mit Beschlüssen vom 12.01.2021 jeweils die vorläufige Eigenverwaltung an und bestellte einen vorläufigen Sachwalter.

Bereits mit E-Mail vom 10.11.2020 zeigten die Antragstellerinnen die Notwendigkeit der Verlängerung der Kurzarbeit bis zum 31.12.2021 aufgrund massiver Besucher- und Umsatzeinbrüche in Folge der COVID-19-Pandemie an. Hierauf erteilte die Antragsgegnerin am 25.01.2021 einen Anerkennungsbescheid nach § 99 SGB III und bewilligte die beantragten Beträge für KUG und pauschalierte Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen. Im Januar 2021 setzte die Antragsgegnerin das KUG für Januar 2021 neu fest und teilte mit, dass ab Januar 2021 eine Erstattung der SV-Beiträge nicht mehr möglich sei, da von einer Anfechtbarkeit nach §§ 129 ff. InsO ausgegangen werde. Im Hinblick darauf, dass die gezahlten SV-Beiträge mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens angefochten und zur Insolvenzmasse gezogen würden, sei für die Erstattung nach § 2 der Verordnung über Erleichterungen in der Kurzarbeit vom 25.03.2020 (KugV) „kein Raum“.

Der Widerspruch blieb erfolglos. Ein Antrag auf Erstattung der SV-Beiträge ab Insolvenzantragstellung diene dem ausschließlichen Ziel der Massemehrung und ggf. der Finanzierung eines Insolvenzplans. Dies entspreche nicht dem Zweck der KugV. Deshalb werde aufgerechnet gemäß § 333 Abs. 3 Nr. 1 SGB III. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz sei nicht erkennbar.

Mit Antrag vom 01.04.2021 haben die Antragstellerinnen beim SG Würzburg beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zur vorläufigen Erstattung der SV-Beiträge für die Monate Januar bis März 2021 zu verpflichten. Ohne die sofortige Erstattung der SV-Beiträge für diese Monate i.H.v. insgesamt 2,36 Mio. EUR drohe den Antragstellerinnen die Einstellung des Geschäftsbetriebs und der Verlust von mehreren tausend Arbeitsplätzen. Die Verlängerung des „Lockdown“ am 22.03.2021 habe die Situation nochmals dramatisch verschlechtert. Das in Eigenverwaltung geführte Insolvenzverfahren habe zum Ziel, die Fortführung der Gruppe sicherzustellen und die Arbeitsplätze zu erhalten. Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sei am 01.07.2021 zu rechnen. Im Rahmen eines strukturierten Investorenprozesses solle bis spätestens zu diesem Termin ein neuer Investor für die Gruppe gewonnen werden. Das SG verpflichtet mit angefochtenem Beschluss, den Antragstellerinnen vorläufig die in der Zeit von Januar bis März 2021 allein getragenen SV-Beiträge in pauschalierter Form zu erstatten. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin. Der vorläufige Sachwalter hat namens der drei Antragstellerinnen eine Erklärung abgegeben, wonach er keine Anfechtungsansprüche gegen gezahlte SV-Beiträge während des KUG-Zeitraums geltend machen werde.

Entscheidung

Das LSG weist die fristgerecht eingelegte Beschwerde zurück, nachdem es mit gesondertem Beschluss den Antrag der Antragsgegnerin die Vollstreckung aus dem Beschluss des SG auszusetzen, abgelehnt hat.

Ein Anordnungsanspruch ist vorliegend überwiegend wahrscheinlich. Anspruchsgrundlage ist § 2 Abs. 1 KugV. Danach werden dem Arbeitgeber die von ihm während des Bezugs von KUG nach § 95 oder 101 SGB III allein zu tragenden Beiträge zur Sozialversicherung auf Antrag von der BA für Arbeitsausfälle vom 01.01. bis 30.06.2021 in voller Höhe und für Ausfälle vom 01.07. bis 31.12.2021 in Höhe von 50 % in pauschalierter Form erstattet. Die Antragstellerinnen haben unstreitig im maßgeblichen Zeitraum die bereits zuvor angeordnete Kurzarbeit fortgeführt. Die Beitragspflichten sind nach dem Gesetz angefallen. Die in § 2 Abs. 1 KugV angeordnete Rechtspflicht zur Erstattung der SV-Beiträge setzt die tatsächliche Zahlung der SV-Beiträge an die Einzugsstelle voraus. Die Antragsgegnerin kann nicht mit der Einwendung der unzulässigen Rechtsausübung gemäß § 242 BGB gehört werden. Die Antragsgegnerin beruft sich zur Begründung vorliegend darauf, dass die Antragstellerinnen bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens die von der Antragsgegnerin vorläufig erstatteten Beiträge auf der Grundlage von § 328 Abs. 4 SGB III zurückzuzahlen hätten, weil sie wegen der dann gegenüber den Einzugsstellen erfolgenden Insolvenzanfechtung diese nicht getragen hätten. Für die Erfüllung der Voraussetzungen des Rückgewähreinwands fehlt es bereits an der gegenwärtigen oder lediglich durch die Geltendmachung der Forderung bedingten Durchsetzbarkeit der Gegenforderung der Antragsgegnerin nach § 328 SGB III. Die Antragsgegnerin kann auch nicht damit gehört werden, dass durch die Erstattung der SV-Beiträge im Ergebnis eine zweckwidrige Verlängerung des Insolvenzgeldzeitraums erfolge. KUG sei – so die Antragsgegnerin – „kein Sanierungsinstrument“. Diese Einwände richten sich gegen die Gewährung des KUG, rechtfertigen es aber nicht, die Erstattung der SV-Beiträge zu verweigern. Der Antragsgegnerin sei zuzugestehen, dass Zweck der Erstattung der SV-Beiträge nicht die Sanierung eines in die Krise geratenen Unternehmens ist. Nach dem Willen des Gesetzgebers zu § 175a SGB III soll die Erstattung der SV-Beiträge den Arbeitgeber von einem Großteil der individuellen Kosten einer Weiterbeschäftigung der Belegschaft befreien. Ziel der Erstattung der SV-Beiträge durch die BA sei also letztlich der Erhalt der Arbeitsplätze. Soweit die BA dem Anspruch eine Aufrechnung nach § 333 SGB III entgegenhält, scheitert dies schon daran, dass das Ermessen nicht ausreichend ausgeübt worden sei. Ausnahmsweise sei hier im Wege der einstweiligen Anordnung die BA zu verpflichten, für rückwirkende Zeiträume die Beiträge zu erstatten. Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden, dass der Antragsteller vor vollendete Tatsachen gestellt wird, eher er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann. Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit.

Praxishinweis

1. Die am Sinn und Zweck des Kurzarbeitergeldes orientierte Entscheidung überzeugt. Ob die hier betroffenen Modemärkte tatsächlich die Corona-Krise „überleben“, mag durchaus zweifelhaft sein (Pressenotiz vom 3.7.2021, SZ v. 3.7.2021, S. 25). Im Bereich des Einzelhandels werden sich erhebliche Änderungen ergeben. Mit dieser Perspektive die Erstattung der SV-Beiträge zu verweigern, macht in der Tat wenig Sinn.

2. In ihrer Anmerkung weisen Tresselt und Wucherer, NZI 2021, 623, auf die Änderung der KugV hin. Pape stimmt in seiner Anmerkung, NZI 2021, 650, dem Gericht zu.

3. Die Entscheidung zeigt erneut, wie problematisch die Anfechtbarkeit von Zahlungen an die Einzugsstelle sind. Dieses weit über den vorliegenden Fall hinausgehende Thema versuchte der Gesetzgeber in den Griff zu bekommen, als er § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV einfügte, wonach die Zahlung des vom Beschäftigten zu tragenden Teils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags als aus dem Vermögen des Beschäftigten erbracht gilt. Der BGH hat mit Urteil vom 05.11.2009 (BeckRS 2009, 86788) dem Gesetzgeber einen „Rechtsirrtum“ bescheinigt. Die Zielsetzung - Schutz der Sozialversicherungsträger vor Beitragsrückgewähr – sei in der Norm nicht zum Ausdruck gebracht worden. Diese Art von Missdeutung eines Parlamentsgesetzes überzeugt nicht (z.B. Plagemann/Radtke-Schwenzer, ZIP 2009, 899; Knospe, Die Insolvenzanfechtung von Sozialversicherungsbeiträgen, 2014).

4. Der Beschluss überzeugt auch insoweit, als er die KUG-Leistung nicht grundsätzlich als fehlerhaft verurteilt mit der Begründung, KUG sei kein Sanierungsinstrument. Während der Corona-Pandemie konnten Modemärkte nicht weiterarbeiten, so dass KUG gerechtfertigt war, auch für die hier betroffenen Modemärkte, die sowieso schon hart an der Grenze der Überschuldung agierten.

LSG Bayern, Beschluss vom 10.05.2021 - L 10 AL 61/21 B ER, BeckRS 2021, 10458