NJW-Editorial
Übergriffige Politik

Im September wird sich der 73. Deutsche Juristentag in einer Abteilung „Justiz“ mit ­deren Unabhängigkeit beschäftigen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, durch wen und auf welche Weise Rechtsprechungsämter zu besetzen sind, um die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter zu gewährleisten. Das Thema sei „auch mit Blick auf die Europäische Union derzeit von hoher Aktualität“ und „für einen demokratischen Rechtsstaat von elementarer Bedeutung“. Man kann dem Juristentag nur zustimmen. Es bedarf dafür aber keines Blickes auf die EU bzw. die Entwicklungen in Polen und Ungarn, die damit konkret gemeint sind. Seit einiger Zeit häufen sich auch hierzulande Vorgänge, bei denen eine übergriffige Politik das Vertrauen in unabhängige Gerichte untergräbt.

14. Jul 2022

Ende 2018 wechselte Stephan Harbarth direkt aus dem Bundestag an das BVerfG, um später dessen Präsident zu werden. Hiergegen gab es viel Kritik, weil Harbarth als stellvertre­tender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein wichtiges Parteiamt innehatte und als Vertrauter der damaligen Kanzlerin Angela Merkel galt. Der Vorwurf ­mangelnder Unabhängigkeit – mag er auch unberechtigt sein – lastet seit Beginn seiner Amtszeit schwer auf ihm und dem Gericht. Da hilft auch der Verweis auf frühere Wechsel aus der Politik ans Gericht wie etwa die von Roman Herzog und Jutta Limbach nicht weiter. Es waren damals andere Zeiten. Wer Polen und Ungarn für seine Justiz­reformen zurecht scharf kritisiert, sollte selbst keine Angriffsfläche bieten.

In Erinnerung ist auch noch die Auseinandersetzung der damaligen Bundesjustizminis­terin Christine Lambrecht (SPD) mit den Bundesgerichten über die Absenkung der ­Anforderungen an die Senatsvorsitze. Der Streit stand im Zusammenhang mit der Besetzung der BFH-Spitze, die immer noch nicht abgeschlossen ist (die Stelle des bzw. der Vize ist weiter vakant). Beim BVerwG ist der Präsidentensessel auch deshalb schon lange verwaist, weil ein von der Politik ausgeguckter Kandidat bei den Leipziger Richtern mangels einschlägiger Erfahrung auf Vorbehalte stieß und daraufhin zurückzog.

Und jetzt die Auseinandersetzung um das Präsidentenamt beim OLG Stuttgart als neue Eskalationsstufe. Die baden-württembergische Justizministerin will eine Abteilungsleiterin aus ihrem Haus dorthin befördern. Der Präsidialrat der ordentlichen Gerichtsbarkeit hat einen eigenen Vorschlag gemacht. Das hält die Ministerin für „grob rechtswidrig“ und klagt vor dem VG. Die Reaktionen über diesen „Angriff auf die Gewaltenteilung und die Unabhängig der Justiz“ reichen von „fassungslos“, über „empört“ bis „entsetzt“.

Was die hier genannten Vorgänge eint: Sie lassen den Eindruck entstehen, als ginge es der Politik nicht um eine sachgerechte, allein an der Eignung und Befähigung orientierte Besetzung von Richterstellen. Das beschädigt das Vertrauen in eine unabhängige dritte Gewalt, die frei ist von politischer Einflussnahme. Der Juristentag hat viel Diskussionsstoff.

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Rechtsanwalt Tobias Freudenberg ist Schriftleiter der NJW, Frankfurt a. M..