Bei einer Festveranstaltung betonte jüngst der nach langer Vakanz an die Spitze des Bundesfinanzhofs gerückte neue Präsident Hans-Josef Thesling die rückläufige Zahl der finanzgerichtlichen Verfahren. Er deutete an, dass dies die Möglichkeit biete, die Altbestände zu reduzieren, ebenso die Laufzeit von Verfahren bei den Finanzgerichten. Gut so. Vielleicht eröffnet diese Situation auch die Möglichkeit, im Interesse der Gerichtsentlastung geschaffene Regelungen kritisch zu beleuchten. Hier ist die Rede von § 6 FGO. Danach kann in einem gerichtlichen Steuerstreit der Senat den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Ähnlich äußert sich § 6 VwGO, wobei dort das „kann“ sogar ein „soll“ ist. Klingt gut, wenn es darum geht, weniger komplexe Verfahren auf einen Richter zu konzentrieren und damit nicht den Senat in der Vollbesetzung mit drei Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern entscheiden zu lassen. Bekanntlich ist die Einzelrichterthematik gerade auch im Zivilprozess „ein weites Feld“ – das dort aber, im Detail, vom Gesetzgeber anders abgesteckt ist (vgl. §§ 348, 348a, 526, 527 und 568 ZPO).
Dass die durch die FGO eingeräumte Möglichkeit von den einzelnen Finanzgerichten schon seit Jahren höchst unterschiedlich genutzt wird, ist auffällig. Die Spanne reicht hier im letzten Jahr von 0 bis fast 30 Prozent aller Entscheidungen, die auf diese Weise durch einen Solo-Richter erledigt wurden. Der Prozentsatz der Einzelrichterentscheidungen liegt mit rund 16 im gesamten Bundesgebiet über Jahre hinweg relativ gleich. Alles gut also (bis auf die Frage der regionalen Unterschiede)? Nein. Immer wieder scheinen Solo-Richter ihre Befugnisse zu übertreten, wie ein aktueller Fall zeigt (BFH, NJW 2022, 3670). Interessant ist weniger das materielle Problem als vielmehr die Tatsache, dass der zum Einzelrichter ernannte Entscheider die Revision zugelassen hatte und der Fall so beim Bundesfinanzhof landete. Der Widerspruch ist offenkundig: Eine tatsächlich und rechtlich einfache Sache erfüllt kaum die Voraussetzungen des § 115 II Nr. 1 FGO für die Revisionszulassung.
Dass in der ohnehin kargen steuerlichen Rechtschutzlandschaft FG-Senate die Möglichkeit einer Einzelrichterübertragung allzu großzügig handhaben und einzelne Finanzrichter sich schlichtweg überheben, ist ein Problem. Die Belehrung des BFH im oben genannten Fall, der Rechtsstreit werde „unter Aufhebung des Beschlusses betreffend die Übertragung des Streitfalls auf den Einzelrichter an den Vollsenat zurückverwiesen, da die Voraussetzungen des § 6 I Nr. 1 FGO im Streitfall nicht gegeben“ seien, ist peinlich. Das alles ist jedenfalls Anlass genug, die Gewichtsverteilung zwischen „Einzelrichter und Vollbesetzung“ in den Verfahrensordnungen neu zu bestimmen.
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