NJW-Editorial
Tücken richterlicher Rechtsfortbildung
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Die Methodenlehre hat große Anstrengungen unternommen, die Gesetzesauslegung sowie die Gesetzesergänzung durch richterliche Rechtsfortbildung zu konkretisieren und rechtssicher auszugestalten. Dass sich dabei stets eine einzige richtige Entscheidung ergibt, ist freilich ein frommer Wunsch. Die richterliche Entscheidung ist einer ­rational strukturierten Erörterung zugänglich, das Ergebnis ist dagegen nicht rational determiniert. Josef Esser hat das 1970 unter dem plastischen Titel „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ dargelegt.

22. Sep 2022

Gibt es nicht dennoch viele eindeutig richtige Urteile? Kann die Evidenz zur Richtigkeitsgewähr führen? Dazu ein aktuelles Beispiel: Die Klägerin hat einen Zivilprozess ­erfolglos geführt. Ein grober Verfahrensfehler hat den VIII. Zivilsenat des BGH trotz ­Erfolglosigkeit der Klage dazu geführt, Gerichtskosten nicht zu erheben (BGH v. 19.07.2022 – VIII ZR 48/22, BeckRS 2022, 20578). Das beruht auf § 21 I GKG und ist nicht zu beanstanden. Allerdings hatte die Klägerin zusätzlich beantragt, die außergericht­lichen Kosten dem Bundesland aufzuerlegen, in dem das Berufungsgericht seinen Sitz hat. Das hat der BGH mit dem Hinweis abgelehnt, § 21 GKG enthalte eine abschließende Regelung allein für Gerichtskosten. Wegen des eindeutigen Wortlauts sei die Norm nicht auf außergerichtliche Kosten übertragbar – eine evident richtige Entscheidung. Dennoch bleibt ein Störgefühl, wenn der BGH in einem Klammerzusatz auf die Möglichkeit der Klägerin verweist, außergerichtliche Kosten im Wege der Staatshaftung gem. § 839 BGB geltend zu machen. Dieser Hinweis könnte auf eine Gesetzes­lücke hindeuten und zu einer Analogie führen. Nicht einmal der eindeutige Gesetzeswortlaut führt also zu einer Evidenz richterlicher Entscheidung.

Blicken wir auf eine andere Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH aus neuerer Zeit (NJW 2020, 208). Es ging um den Streit über drittfinanzierte Sammelinkassoklagen. Die entscheidende Frage in dem Streit lautet: Was ist ein zulässiges Inkasso im Sinne des RDG? Kann ein Kläger Forderungen, die ihm abgetreten sind, vor Gericht als Inkasso einklagen? Der Gesetzeswortlauf ist wiederum eindeutig: Das RDG behandelt ausschließlich Rechtsdienstleistungen im außergerichtlichen Bereich. Schon der Name des Gesetzes lautet: „Gesetz über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen“. Das hat den BGH in keiner Weise beeindruckt: Er hat die Sammelinkassoklagen als vom Gesetz gedeckt und damit als zulässig angesehen. Wo bleibt die vom eindeutigen Gesetzeswortlaut herbeigeführte Evidenz richterlicher Entscheidung? Zurück zum Ausgangsbeispiel: Der Kläger muss dank des eindeutigen Gesetzeswortlauts eine neue Klage aus Amtshaftung gegen das Bundesland erheben. Das wird Zeit und Geld kosten. Prozessökonomisch wäre eine andere Entscheidung des VIII. Zivilsenats zweckmäßig gewesen.

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Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hanns Prütting ist Direktor des Instituts für Anwaltsrecht und ​Emeritus des Instituts für Verfahrens- und Insolvenzrecht der Universität zu Köln.