Urteilsanalyse

Tod durch Co­ro­na als Ar­beits­un­fall
Urteilsanalyse
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Ver­si­cher­te, die sich im Rah­men einer Fahr­ge­mein­schaft im Jahre 2020 an Co­ro­na an­ste­cken, kön­nen nach An­sicht des SG Duis­burg einen Ar­beits­un­fall er­lei­den.

19. Sep 2023

Rechts­an­walt Prof. Dr. Her­mann Pla­ge­mann, Pla­ge­mann Rechts­an­wäl­te Part­ner­schaft mbB, Frank­furt am Main

Aus beck-fach­dienst So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht 18/2023 vom 15.09.2023

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des So­zi­al­ver­si­che­rungs­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de

Sach­ver­halt

Der Ehe­mann der Klä­ge­rin, wohn­haft in Duis­burg war bei einer Firma in Dort­mund be­schäf­tigt. Am 04.11.2020 und 05.11.2020 bil­de­te er mit einem Ar­beits­kol­le­gen, dem Zeu­gen, eine Fahr­ge­mein­schaft für den Weg von Duis­burg nach Dort­mund zur Ar­beits­stel­le und zu­rück. Am 09.11.2020 tra­ten bei dem Klä­ger erst­mals Krank­heits­sym­pto­me in Form von Ab­ge­schla­gen­heit auf. Am Fol­ge­tag, dem 10.11.2020 fiel er auf der Ar­beit ohn­mäch­tig zu Boden und wurde dar­auf­hin in das Kran­ken­haus ver­bracht. Dort fiel der Covid-19-Test po­si­tiv aus. Der Ver­si­cher­te wurde dar­auf­hin auch wegen eines aku­ten Atem­not­syn­droms be­han­delt und in ein an­de­res Kran­ken­haus ver­legt. Dort ver­starb er am 23.12.2020 auf­grund einer schwe­ren Atem­not bei Covid-19 as­so­zi­ier­ter Pneu­mo­nie und nicht be­herrsch­ba­rer pul­mo­na­ler Blu­tung.

Die Klä­ge­rin bat die be­klag­te BG um Er­tei­lung rechts­be­helfs­fä­hi­ger Be­schei­de über die An­er­ken­nung der Ent­schä­di­gung einer Be­rufs­krank­heit 3101 bzw. um Prü­fung des Vor­lie­gens eines Ver­si­che­rungs­fal­les, ins­be­son­de­re über die Ge­wäh­rung von Leb­zei­ten- und Hin­ter­blie­be­nen­leis­tun­gen. Der Zeuge habe dem Ver­stor­be­nen be­reits am 06.11.2020 per Whats­App mit­ge­teilt, dass er er­krankt sei und der Ver­stor­be­ne daher lie­ber selbst zur Ar­beit fah­ren solle. Der Zeuge war vom 09.11. bis 18.11.2020 durch An­ord­nung des Ge­sund­heits­am­tes in häus­li­cher Qua­ran­tä­ne ge­we­sen. Der Zeuge gab an, die ers­ten Sym­pto­me am 09.11.2020 ge­habt zu haben. Wäh­rend der ge­mein­sa­men Fahrt mit dem Ver­sto­be­nen seien OP-Mas­ken ge­tra­gen wor­den und die Fens­ter ge­öff­net ge­we­sen.

Die Klä­ge­rin selbst wurde am 11.11.2020 po­si­tiv auf das Co­ro­na-Virus ge­tes­tet. Die Be­klag­te lehn­te durch an­ge­foch­te­nen Be­scheid die Ge­wäh­rung einer Hin­ter­blie­be­nen­ren­te ab. Der Ver­si­cher­te sei nicht auf­grund eines Ar­beits­un­falls ver­stor­ben. Zum Zeit­punkt des Kon­takts mit dem Ver­si­cher­ten am 04. und 05.11.2020 sei eine be­reits be­stehen­de Co­ro­na-In­fek­ti­on des Zeu­gen nicht be­stä­tigt. Gegen Be­scheid und Wi­der­spruchs­be­scheid erhob die Klä­ge­rin Klage. Das Ge­richt hat den Kol­le­gen, mit dem der Ver­stor­be­ne eine Fahr­ge­mein­schaft bil­de­te, als Zeu­gen ver­nom­men.

Ent­schei­dung

Das Ge­richt gibt der Klage statt und ver­ur­teilt die BG der Klä­ge­rin Wit­wen­ren­te ab dem 23.12.2020 gem. §§ 63, 65, 72 SGB VII zu ge­wäh­ren, da ihr Ehe­mann in­fol­ge eines Ar­beits­un­falls ver­stor­ben ist. Zwar ob­liegt es der Klä­ge­rin als An­spruch­stel­le­rin den Be­weis für die tat­säch­li­chen Vor­aus­set­zun­gen des Ver­si­che­rungs­fal­les zu füh­ren. Hier aber ist die Kam­mer zur Über­zeu­gung ge­kom­men, dass der Ver­si­cher­te in­fol­ge eines Ar­beits­un­falls, näm­lich auf­grund der wäh­rend der Aus­übung sei­ner be­ruf­li­chen Tä­tig­keit er­wor­be­nen Covid-19-In­fek­ti­on ver­stor­ben ist. Zur Über­zeu­gung der Kam­mer war der Zeuge im Zeit­punkt der bei­den Fahr­ten am 04.11. und 05.11.2020 in­fek­ti­ös, da er be­reits am 06.11.2020 spe­zi­fi­sche Sym­pto­me hatte und am 09.11.2020 po­si­tiv auf das Co­ro­na-Virus ge­tes­tet wurde. Wäh­rend der ge­mein­sa­men Fahrt habe nur der Bei­fah­rer eine me­di­zi­ni­sche Maske ge­tra­gen, der Fah­rer je­doch nicht. Die bei­den hät­ten sich ab­ge­wech­selt. Da die Fahrt je­weils 40 bis 50 Mi­nu­ten ge­dau­ert hat, war damit ein aus­rei­chen­der Kon­takt des Ver­stor­be­nen mit dem in­fek­tiö­sen Zeu­gen ge­ge­ben. Die In­fek­ti­on habe „un­zwei­fel­haft“ zu dem Tod des Ver­si­cher­ten ge­führt. In der To­des­be­schei­ni­gung war als un­mit­tel­ba­re To­des­ur­sa­che eine Schock­lun­ge bei Covid as­so­zi­ier­ter Pneu­mo­nie an­ge­ge­ben.

Pra­xis­hin­weis

1. Das SG be­zieht sich zur Be­wer­tung der in­fek­tiö­sen Si­tua­tio­nen auf „Vor­ga­ben der Deut­schen ge­setz­li­chen Un­fall­ver­si­che­rung (DGUV)“. Dem­nach müsse ein in­ten­si­ver Kon­takt mit einer in­fek­tiö­sen Per­son (Index-Per­son) nach­weis­lich statt­ge­fun­den haben. Die­ser Kon­takt muss zwi­schen zwei Tagen vor dem Auf­tritt der ers­ten Sym­pto­me bei der Index-Per­son und 10 Tagen nach Sym­ptom­be­ginn er­folgt sein. Die­ses Er­for­der­nis läge hier vor, da bei dem Zeu­gen nach­weis­lich be­reits am 06.11.2020 erste Sym­pto­me auf­ge­tre­ten sind.

2. Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­so­zi­al­ge­rich­tes kommt ein Ar­beits­un­fall nur dann in Be­tracht, wenn das ge­sund­heits­schä­di­gen­de Er­eig­nis ein „zeit­lich be­grenz­tes“ Er­eig­nis dar­stellt (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Zeit­lich be­grenzt in die­sem Sinne ist ein Er­eig­nis nur dann, wenn es nicht län­ger als eine Ar­beits­schicht an­dau­ert. Die hier die In­fek­ti­on nach Auf­fas­sung des SG aus­lö­sen­den Fahr­ten dau­er­ten in der Tat nicht län­ger als eine Ar­beits­schicht. Dann kann man aber wohl nicht zwei Fahr­ten an zwei ver­schie­de­nen Tagen als ein „zeit­lich be­grenz­tes Er­eig­nis“ an­se­hen. Das BSG hat ver­ein­zelt mit dem In­stru­ment der „Wahl­fest­stel­lung“ ope­riert (u.a. BSG, NJW 1961, 94): Ei­ner­lei, ob der Ver­stor­be­ne bei der Fahrt am 04. oder am 05.11.2020 in­fi­ziert war. In­fek­ti­ons­quel­le ist je­den­falls der Ar­beits­kol­le­ge. So­weit hat al­ler­dings – so­weit er­sicht­lich – die Recht­spre­chung den Tat­be­stand Ar­beits­un­fall bis­her nicht aus­ge­dehnt.

Die bis­her be­kannt ge­wor­de­nen Ur­tei­le zum Thema Covid-19-In­fek­ti­on und Ar­beits­un­fall waren eher zu­rück­hal­tend, z. B. SG Kon­stanz, FD-SozVR 2022, 452380.

SG Duis­burg, Ur­teil vom 13.06.2023 - S 36 U 407/22, BeckRS 2023, 21546