Anmerkung von
Rechtsanwältin Dr. Katrin Haußmann, Gleiss Lutz, Stuttgart
Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 07/2021 vom 18.02.2021
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Sachverhalt
Zwischen den Parteien war streitig, wie der Kläger tariflich einzustufen war. Das beklagte Land als Arbeitgeber hatte mit ihm arbeitsvertraglich 1993 die Geltung des Bundesmanteltarifvertrags für Arbeiter gemeindlicher Verwaltung und Betriebe (BMT-G II) und der an seine Stelle tretenden Tarifverträge vereinbart. An die Stelle war der TVöD getreten und die diesen ergänzenden Übergangsregeln des TVÜ-VKA.
Die maßgeblichen tariflichen Bestimmungen zur Stufenzuordnung orientierten sich an einem Stichtag. Die Regeln stellten für die im Vergleich günstigere Regelung darauf ab, ob ein Mitarbeiter nach dem 1.3.2017 höhergruppiert worden sei. Der Kläger beanstandete, dass die Wahl des Stichtags sich nicht am gegebenen Sachverhalt orientierte. Die Entgeltordnung sei zum 1.1.2017 in Kraft getreten. Auf diesen Tag wirkten auch Höhergruppierungsanträge zurück.
Das beklagte Land sah in der Stufenzuordnung des Klägers keinen Widerspruch zum verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz. Es hielt die Stichtagsregelung für wirksam, da sie von den Tarifvertragsparteien so festgelegt wurde und werden durfte.
Entscheidung
ArbG und LAG hatten die Anträge des Klägers abgewiesen. Auch das BAG hielt die Argumentation des Klägers für unberechtigt und wies die Revision als unbegründet zurück.
Das Gericht prüft zunächst, welche Rechtsfolgen sich aus der unmittelbaren Anwendung des Tarifvertragswerkes ergeben, dessen Anwendung zwischen den Parteien grundsätzlich nicht streitig war. Es befasst sich darin mit der Frage, ob die Tarifvertragsparteien als Normgeber auch für den öffentlichen Dienst einen Stichtag wählen durften, um zwischen Mitarbeitern zu differenzieren. Das Gericht hält Stichtagsregelungen als „Typisierungen in der Zeit“ grundsätzlich für zulässig. Auch wenn sie zu unvermeidlichen Härten führen könnten, sei aus Gründen der Praktikabilität die Abgrenzung begünstigter Personenkreise nach Zeitabschnitten nicht generell zu beanstanden. Entscheidend sei, ob die Wahl des Stichtags am gegebenen Sachverhalt orientiert und sachlich vertretbar sei. Hier sei zu berücksichtigen gewesen, dass ein tarifliches Vergütungssystem umgestellt werden musste. Dieser Umstellungsprozess sei ohne einen solchen Stichtag nicht durchführbar. Die Tarifvertragsparteien dürften die Grenzen des Vertrauensschutzes frei aushandeln und auch autonom bestimmen, welche Gruppe ab welchem Zeitpunkt bessergestellt werde.
Die Festlegung des Stichtags könne nur einer Willkürkontrolle unterzogen werden. Im Ergebnis verstieße die Stichtagsregelung nicht gegen Art. 3 I GG. Der Stichtag sei in diesem Fall offenkundig nicht willkürlich gewählt. Die Tarifvertragsparteien hätten in dem Gesamtkonzept zur Umstellung von einem Vergütungssystem auf ein anderes Vergütungssystem ein ausgewogenes Gesamtkonzept vor Augen gehabt.
Das Gericht prüft schließlich, ob die Stufenzuordnung eine mittelbare Altersdiskriminierung sei und als solche einer verfassungsrechtlichen Prüfung der tarifautonom gesetzten Grenzen nicht standhielte. Die Altersdiskriminierung sei vom Kläger jedoch nicht dargelegt, da aus objektiver Sicht nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf geschlossen werden könnte, dass die weniger günstige Behandlung ältere Mitarbeiter zwangsläufig benachteilige. Es sei nicht ausreichend, dass die vom Kläger genannten Gründe mitursächlich für eine solche Benachteiligung seien.
Praxishinweis
Die Entscheidung ruft in Erinnerung, dass den Tarifvertragsparteien zugetraut wird, ausgewogene Lösungen in Fragen der Gerechtigkeit zu schaffen, die zugleich praxistauglich sind. Das ergibt sich so aus Art. 9 III GG i.V.m. dem TVG. Gesetzgeberischen Aktivitäten zur Lohnhöhe haben dieses Prinzip gelegentlich vergessen lassen. Das Gericht respektiert hier ausdrücklich die Tarifautonomie und formuliert den Maßstab, an dem Gerichte die Entscheidungen der tariflichen Normsetzung zu messen haben. Gerichtlich überprüfbar ist ein verfassungsrechtlich relevanter Gleichheitsverstoß. Er liegt dann vor, wenn wesentlich Ungleiches gleich behandelt wird oder wesentlich Gleiches ungleich behandelt wird.
BAG, Urteil vom 19.11.2020 - 6 AZR 449/19 (LAG Hamm), BeckRS 2020, 39831