Urteilsanalyse

Ta­rif­li­che Stich­tags­re­ge­lung ver­stö­ßt nicht gegen Art. 3 I GG
Urteilsanalyse
urteil_lupe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
urteil_lupe

Ta­rif­li­che An­spruchs­grund­la­gen dür­fen nach einem Ur­teil des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 19.11.2021 ab­hän­gig von einem sach­lich ver­tret­ba­ren Stich­tag ver­schie­de­ne Leis­tun­gen für Grup­pen der Be­leg­schaft vor­se­hen.

23. Feb 2021

An­mer­kung von
Rechts­an­wäl­tin  Dr. Kat­rin Hau­ß­mann, Gleiss Lutz, Stutt­gart

Aus beck-fach­dienst Ar­beits­recht 07/2021 vom 18.02.2021

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Ar­beits­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Ar­beits­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Ar­beits­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de

Sach­ver­halt

Zwi­schen den Par­tei­en war strei­tig, wie der Klä­ger ta­rif­lich ein­zu­stu­fen war. Das be­klag­te Land als Ar­beit­ge­ber hatte mit ihm ar­beits­ver­trag­lich 1993 die Gel­tung des Bun­des­man­tel­ta­rif­ver­trags für Ar­bei­ter ge­meind­li­cher Ver­wal­tung und Be­trie­be (BMT-G II) und der an seine Stel­le tre­ten­den Ta­rif­ver­trä­ge ver­ein­bart. An die Stel­le war der TVöD ge­tre­ten und die die­sen er­gän­zen­den Über­gangs­re­geln des TVÜ-VKA.

Die ma­ß­geb­li­chen ta­rif­li­chen Be­stim­mun­gen zur Stu­fen­zu­ord­nung ori­en­tier­ten sich an einem Stich­tag. Die Re­geln stell­ten für die im Ver­gleich güns­ti­ge­re Re­ge­lung dar­auf ab, ob ein Mit­ar­bei­ter nach dem 1.3.2017 hö­her­grup­piert wor­den sei. Der Klä­ger be­an­stan­de­te, dass die Wahl des Stich­tags sich nicht am ge­ge­be­nen Sach­ver­halt ori­en­tier­te. Die Ent­gelt­ord­nung sei zum 1.1.2017 in Kraft ge­tre­ten. Auf die­sen Tag wirk­ten auch Hö­her­grup­pie­rungs­an­trä­ge zu­rück.

Das be­klag­te Land sah in der Stu­fen­zu­ord­nung des Klä­gers kei­nen Wi­der­spruch zum ver­fas­sungs­recht­li­chen Gleich­heits­satz. Es hielt die Stich­tags­re­ge­lung für wirk­sam, da sie von den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en so fest­ge­legt wurde und wer­den durf­te.

Ent­schei­dung

ArbG und LAG hat­ten die An­trä­ge des Klä­gers ab­ge­wie­sen. Auch das BAG hielt die Ar­gu­men­ta­ti­on des Klä­gers für un­be­rech­tigt und wies die Re­vi­si­on als un­be­grün­det zu­rück.

Das Ge­richt prüft zu­nächst, wel­che Rechts­fol­gen sich aus der un­mit­tel­ba­ren An­wen­dung des Ta­rif­ver­trags­wer­kes er­ge­ben, des­sen An­wen­dung zwi­schen den Par­tei­en grund­sätz­lich nicht strei­tig war. Es be­fasst sich darin mit der Frage, ob die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en als Norm­ge­ber auch für den öf­fent­li­chen Dienst einen Stich­tag wäh­len durf­ten, um zwi­schen Mit­ar­bei­tern zu dif­fe­ren­zie­ren. Das Ge­richt hält Stich­tags­re­ge­lun­gen als „Ty­pi­sie­run­gen in der Zeit“ grund­sätz­lich für zu­läs­sig. Auch wenn sie zu un­ver­meid­li­chen Här­ten füh­ren könn­ten, sei aus Grün­den der Prak­ti­ka­bi­li­tät die Ab­gren­zung be­güns­tig­ter Per­so­nen­krei­se nach Zeit­ab­schnit­ten nicht ge­ne­rell zu be­an­stan­den. Ent­schei­dend sei, ob die Wahl des Stich­tags am ge­ge­be­nen Sach­ver­halt ori­en­tiert und sach­lich ver­tret­bar sei. Hier sei zu be­rück­sich­ti­gen ge­we­sen, dass ein ta­rif­li­ches Ver­gü­tungs­sys­tem um­ge­stellt wer­den muss­te. Die­ser Um­stel­lungs­pro­zess sei ohne einen sol­chen Stich­tag nicht durch­führ­bar. Die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en dürf­ten die Gren­zen des Ver­trau­ens­schut­zes frei aus­han­deln und auch au­to­nom be­stim­men, wel­che Grup­pe ab wel­chem Zeit­punkt bes­ser­ge­stellt werde.

Die Fest­le­gung des Stich­tags könne nur einer Will­kür­kon­trol­le un­ter­zo­gen wer­den. Im Er­geb­nis ver­stie­ße die Stich­tags­re­ge­lung nicht gegen Art. 3 I GG. Der Stich­tag sei in die­sem Fall of­fen­kun­dig nicht will­kür­lich ge­wählt. Die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en hät­ten in dem Ge­samt­kon­zept zur Um­stel­lung von einem Ver­gü­tungs­sys­tem auf ein an­de­res Ver­gü­tungs­sys­tem ein aus­ge­wo­ge­nes Ge­samt­kon­zept vor Augen ge­habt.

Das Ge­richt prüft schlie­ß­lich, ob die Stu­fen­zu­ord­nung eine mit­tel­ba­re Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung sei und als sol­che einer ver­fas­sungs­recht­li­chen Prü­fung der ta­rif­au­to­nom ge­setz­ten Gren­zen nicht stand­hiel­te. Die Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung sei vom Klä­ger je­doch nicht dar­ge­legt, da aus ob­jek­ti­ver Sicht nicht mit über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit dar­auf ge­schlos­sen wer­den könn­te, dass die we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung äl­te­re Mit­ar­bei­ter zwangs­läu­fig be­nach­tei­li­ge. Es sei nicht aus­rei­chend, dass die vom Klä­ger ge­nann­ten Grün­de mit­ur­säch­lich für eine sol­che Be­nach­tei­li­gung seien.

Pra­xis­hin­weis

Die Ent­schei­dung ruft in Er­in­ne­rung, dass den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en zu­ge­traut wird, aus­ge­wo­ge­ne Lö­sun­gen in Fra­gen der Ge­rech­tig­keit zu schaf­fen, die zu­gleich pra­xis­taug­lich sind. Das er­gibt sich so aus Art. 9 III GG i.V.m. dem TVG. Ge­setz­ge­be­ri­schen Ak­ti­vi­tä­ten zur Lohn­hö­he haben die­ses Prin­zip ge­le­gent­lich ver­ges­sen las­sen. Das Ge­richt re­spek­tiert hier aus­drück­lich die Ta­rif­au­to­no­mie und for­mu­liert den Maß­stab, an dem Ge­rich­te die Ent­schei­dun­gen der ta­rif­li­chen Norm­set­zung zu mes­sen haben. Ge­richt­lich über­prüf­bar ist ein ver­fas­sungs­recht­lich re­le­van­ter Gleich­heits­ver­stoß. Er liegt dann vor, wenn we­sent­lich Un­glei­ches gleich be­han­delt wird oder we­sent­lich Glei­ches un­gleich be­han­delt wird.

BAG, Ur­teil vom 19.11.2020 - 6 AZR 449/19 (LAG Hamm), BeckRS 2020, 39831