NJW-Editorial
Suizidprävention statt Suizidhilfe
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Der 6.7.​2023 darf in der Chronik des Deutschen Bundestags als Sternstunde verzeichnet werden. An diesem Tag hat das Parlament nahezu einstimmig den Antrag „Suizidprävention stärken“ (BT-Drs. 20/7360) angenommen. Zugleich hat der Bundestag zwei Gesetzentwürfe zum assistierten Suizid (Suizidhilfe) abgelehnt, in denen die Suizid­prävention nur eine Nebenrolle spielte.

20. Jul 2023

Schon in verfassungsrechtlicher Hinsicht bewegten sich die gescheiterten Gesetzentwürfe auf dünnem Eis. Im Kern sollte ärztliches Berufsverhalten geregelt werden. Das ist nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes Sache der Länder. Beide Entwürfe haben das ignoriert. Die Regelungskonzepte litten darunter, dass anspruchsvolle ärztliche Untersuchungs- und sonstige Beratungsvorgaben normiert wurden. Wie die freiverantwortliche Entscheidung für den Suizid genau geprüft werden sollte, blieb unklar. Der Aufbau eines bundesweiten Suizidberatungsnetzes war ebenso Teil der ­Reformüberlegungen wie der angeblich erleichterte Zugang zu Betäubungsmitteln. Von sogenannten Sterbehilfevereinen hielten beide Entwürfe in unterschiedlicher Weise nichts. Dass deren Tätigkeit gefährlich sei, wurde behauptet, aber nicht belegt.

Was ist zu tun? Erstens muss ab sofort das Suizidpräventionsgesetz vorbereitet werden. Die Bundesregierung muss den Entwurf bis zum 30.6.​2024 vorlegen, er darf sich nicht in schlecht finanzierter Rhetorik erschöpfen. Zweitens: Ein „rechtsfreier“ Raum besteht bei der Suizidhilfe nicht. Das BVerfG schreibt keine spezialgesetzliche ­Regelung vor. Drittens: Insbesondere konfessionelle Träger können die Suizidhilfe in ihren Einrich­tungen unterbinden (Rixen, GesR 2023, 69). Das Grundgesetz schützt – auch religiös motivierte – ethische Diversität: „Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten“ (BVerfG NJW 2020, 905, Ls. 6). Der Gegensatz von Selbstbestimmung und Lebensschutz ist irreführend. Der Begriff „Lebensschutz“ erinnert an die Grenzen der Auto­nomie in Situationen besonderer Vulnerabilität, also bei gefährdeter Selbstbestimmung (psychische Krankheit, ökonomische Not, Angst vor hohen Pflegekosten, Einsamkeit, jugendtypische Krisen usw.). Zum Schutz gefährdeter Autonomie trägt auch das (allerdings jüngst relativierte, BGH NJW 2022, 3021) Verbot der Tötung auf Verlangen bei.

Die parlamentarische Sternstunde vom 6.7.​2023 ruft in Erinnerung: Nur Menschen, die nicht alleingelassen werden, können auch selbstbestimmt Nein zum (assistierten) Suizid sagen. Dazu tragen Maßnahmen der Suizidprävention bei, die Perspektiven zum (Über-)Leben hin eröffnen. Nur ein Suizidpräventionsgesetz, das die Ambivalenzen des Suizidwunsches ernst nimmt, wird ein Selbstbestimmungsstärkungsgesetz sein.

Prof. Dr. Stephan Rixen ist Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln und​Mitglied des Deutschen Ethikrats.