In beiden Fällen handelt es sich auch noch um den Justizzweig, dessen Urteile am schwersten in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen: Die Strafjustiz, soweit die Hauptverhandlungen wegen der Schwere der dort drohenden Sanktionen (bis zur lebenslangen Freiheitsstrafe) vor der Großen Strafkammer des LG oder einem Strafsenat des OLG stattfinden. Über eine mehrstündige in sich widersprüchliche Zeugenaussage mit heftigen Reaktionen auf Vorhalte und Streit über frühere Aussagen desselben oder anderer Zeugen enthält das Protokoll nur den Satz: „Der Zeuge sagte zur Sache aus.“ Kein Wort dazu, was er ausgesagt hat.
Dass dies ein Missstand ist, wird seit langer Zeit von Praktikern beklagt, die immer wieder die Erfahrung machen, dass die dem Schuldspruch zugrunde liegende Erzählung im Urteil nicht in allen wesentlichen Details mit den eigenen Wahrnehmungen aus dem „Inbegriff der Verhandlung“ übereinzustimmen scheint. Auch Richterpersönlichkeiten, die über den Tellerrand der inländisch tradierten Praxis hinausschauen und Erfahrungen mit Vorzügen wörtlicher Dokumentationen des Prozessgeschehens sammeln können, wie der StPO-Kommentator und Richter am IStGH Bertram Schmitt (NStZ 2019, 1), haben die Einführung einer den heutigen technischen Möglichkeiten entsprechenden Dokumentation der gesamten Hauptverhandlung befürwortet. Dagegen hat die Rechtspolitik lange einen Bogen um das Thema gemacht, bis gegen Ende des letzten Jahres nahezu gleichzeitig ein Arbeitskreis deutschsprachiger Strafrechtslehrer (erschienen bei Nomos) und das Bundesjustizministerium je einen Gesetzentwurf über die obligatorische Einführung einer Bild-Tonaufzeichnung der gesamten Hauptverhandlung vorlegten. Sie unterscheiden sich nur in den Fragen nach der Weiterverwendung des technischen Materials.
Interessant waren die Reaktionen der Fachkreise: Während der Professorenentwurf in der Tradition der jahrzehntelangen Diskussion über die alte Forderung der Anwaltschaft kaum Gegenstimmen hervorrief, wurde der erste Referentenentwurf aus dem BMJ von den Richtern und Staatsanwälten offenbar als eine unmittelbare Bedrohung ihrer eingeübten Praxis empfunden. Ihre Berufsorganisationen sahen sich zu so heftigem Protest veranlasst, dass nun ein geänderter zweiter Referentenentwurf erstellt wurde, der nur noch die Audioaufnahmen vorschreiben wird, während die gleichzeitige Videoaufzeichnung als fakultative Möglichkeit erlaubt werden soll. Wem an der Beseitigung des geltenden Missstandes wirklich gelegen ist, kann darauf nur laut rufen: Bitte dann wenigstens das so schnell wie möglich!
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