Urteilsanalyse
Strafbarkeit des sog. Stealthings
Urteilsanalyse
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Das heimliche Abstreifen oder Weglassen des Kondoms beim Geschlechtsverkehr entgegen der Absprache bzw. dem Willen des Sexualpartners („Stealthing“) ist nach dem BGH ein strafbarer sexueller Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB.

28. Feb 2023

Anmerkung von Rechtsanwältin Dr. Ruth Anthea Kienzerle, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 04/2023 vom 23.02.2023

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Sachverhalt

Das LG verurteilte den Angeklagten (A) wegen Vergewaltigung (Fall II.1), schweren sexuellen Übergriffs und sexuellen Übergriffs (Fall II.3) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Den zu Fall II.3 getroffenen Urteilsfeststellungen zufolge ging A nach einvernehmlichem Oralverkehr mit der Geschädigten G an eine Kommode, holte sichtbar ein Kondom heraus und öffnete die Verpackung. Ihm kam es darauf an, dass G davon ausgeht, er werde es überziehen. Ungeschützter Geschlechtsverkehr kam für G nicht in Frage. Tatsächlich legte A das Kondom in einem unbeobachteten Moment von G unbemerkt beiseite und führte mit ihr den Geschlechtsverkehr ohne Kondom durch.

Entscheidung

A wendet sich mit seiner Revision gegen seine Verurteilung. Sein Rechtsmittel hatte hinsichtlich der Verurteilung wegen Vergewaltigung mit der Verfahrensrüge Erfolg.

Auf die Revision des A hob der Senat das Urteil des LG mit den zugehörigen Feststellungen im Fall II.1. der Urteilsgründe und im Ausspruch über die Gesamtstrafe auf und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurück.

Die Anklageschrift lege A in Bezug auf die Tat zu II. 1. zur Last, eine Vergewaltigung unter Ausnutzung des Umstandes begangen zu haben, dass die Besucherin B nicht in der Lage gewesen sei, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern. Die Verurteilung stütze sich indes darauf, dass A gegen den erkennbaren Willen der B sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen habe. Ein Hinweis sei A nicht erteilt worden. Das genüge § 265 Abs. 1 StPO nicht. Ein anderes Strafgesetz i.d.S. sei auch eine ihrem Wesen nach andersartige Begehungsform desselben Strafgesetzes. Daran gemessen habe eine Hinweispflicht bestanden. Es sei nicht auszuschließen, dass A sich bei ordnungsgemäßem Hinweis wirksamer verteidigt und sich dies auf das Urteil ausgewirkt hätte. Die Aufhebung der Verurteilung in diesem Fall ziehe die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

Ferner führte der Senat aus, das LG habe das Geschehen im Fall II. 3. der Urteilsgründe zutreffend als sexuellen Übergriff gewertet. Stimme eine Person dem Geschlechtsverkehr ersichtlich nur unter der Voraussetzung zu, dass dabei ein Kondom genutzt werde, stünden ohne Kondom vorgenommene Handlungen dem erkennbaren Willen entgegen. Sei in Bezug auf die konkret vorgenommene Handlung ersichtlich, dass die betroffene Person sie ablehne, sei nicht entscheidend, ob ein Einverständnis mit anderen sexuellen Handlungen bestehe. Insoweit stellten Geschlechtsverkehr mit Kondom einerseits und ohne andererseits unterschiedliche sexuelle Handlungen dar. Der Gebrauch eines Kondoms betreffe die Art und Weise des Sexualvollzugs und führe zu einer anderen qualitativen Bewertung. Hierfür spreche, dass ein Kondom geeignet sei, eine unerwünschte Schwangerschaft oder die Übertragung von Krankheiten zu verhindern, und dass der Vollzug des Geschlechtsverkehrs ohne Kondom bereits nach früherer Rechtslage straferschwerend berücksichtigt werden konnte. Die Bedeutung der Prävention gegen sexuell übertragbare Erkrankungen werde überdies dadurch deutlich, dass für den Bereich der Prostitution eine Kondompflicht bestehe. Dies ändere nichts daran, dass maßgebliches Rechtsgut des § 177 StGB die sexuelle Selbstbestimmung sei. Die Heranziehung der genannten Gesichtspunkte unterstreiche lediglich, dass ein qualitativer Unterschied zwischen der konsentierten und der tatsächlich vorgenommenen Sexualpraktik bestehe. Den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des LG seien die Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 1 StGB zu entnehmen. G habe in der Situation ungeschützten Vaginalverkehr abgelehnt und sei davon ausgegangen, dass A das hervorgeholte Kondom tatsächlich benutze. Dies sei für ihn nach den dargelegten Umständen erkennbar gewesen, zumal es ihm gerade auf den von ihm herbeigeführten falschen Eindruck angekommen sei.

Praxishinweis

Mit dem Beschluss hat sich der BGH erstmals zum sog. Stealthing geäußert. Er nahm die Entscheidung über die Verfahrensrüge zum Anlass, die Strafbarkeit des Stealthings höchstrichterlich zu bekräftigen und bestätigte, dass die Verurteilung durch das LG wegen sexuellen Übergriffs gem. § 177 Abs. 1 StGB insoweit korrekt war.

Die Begründung dafür überzeugt.

Die Einwilligung in geschützten Sexualverkehr umfasst nicht den Verkehr ohne Verhütung. Das heimliche Entfernen eines Kondoms (oder, wie hier, das heimliche Weglassen) führt zum Wegfall der erkennbar unter der Bedingung der Kondombenutzung erteilten Einwilligung zum ansonsten einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Wie der Senat unter Verweis auf die völlig unterschiedlichen körperlichen Folgerisiken (Infektionen, Schwangerschaft) überzeugend begründet, handelt es sich bei geschütztem und ungeschütztem Verkehr um qualitativ unterschiedliche Arten des Sexualverkehrs. § 177 Abs. 1 StGB schützt die sexuelle Selbstbestimmung auch hinsichtlich der Entscheidung darüber, unter welchen Voraussetzungen der Geschlechtsverkehr stattfinden soll. Die Verwendung eines Kondoms ist deshalb kein bloßer Begleitumstand, sondern gibt dem Verkehr wegen der unterschiedlichen Gefährdungsdimension in sexualstrafrechtlicher Sicht ein wesentlich anderes Gepräge. Vom Einverständnis zum Safer Sex ist das „Mehr“ des ungeschützten Verkehrs als erhebliche Abweichung nicht gedeckt. Der BGH betonte darüber hinaus, dass bei Stealthing auch eine Einordnung als Vergewaltigung wegen Verwirklichung des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB in Betracht komme. Im vorliegenden Fall spielte das deshalb keine Rolle, weil das LG das Regelbeispiel nicht angenommen hatte und A insoweit nicht beschwert war.

BGH, Beschluss vom 13.12.2022 - 3 StR 372/22 (LG Düsseldorf), BeckRS 2022, 41459