Urteilsanalyse
Stottern ist nicht zwingend ein Fall der notwendigen Verteidigung
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Das Stottern eines Beschuldigten begründet den Fall einer notwendigen Verteidigung nach Ansicht des OLG Braunschweig lediglich dann, wenn die Behinderung einen solchen Grad annimmt, dass die Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen.

18. Jan 2022

Anmerkung von 
Rechtsanwältin Dr. Simone Breit, Knierim & Kollegen, Mainzn  

Aus beck-fachdienst Strafrecht 01/2022 vom 14.01.2022

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Sachverhalt

Der Beschwerdeführer (B) wurde wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gegen das Urteil legte B form- und fristgerecht Berufung ein. Im Berufungsverfahren meldete sich Rechtsanwalt T für B und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, weil der B unter einer erheblichen Sprachbehinderung in Form des Stotterns leide. Die Beiordnung wurde mit der Begründung abgelehnt, dass der Beiordnungsantrag im Namen des Verteidigers gestellt sei und ferner die Voraussetzungen für eine Beiordnung nicht vorlägen. Gegen diese Entscheidung wendet sich B mit der mit Schriftsatz seines Verteidigers eingelegten sofortigen Beschwerde. Er führt aus, dass er - B - für sich selbst einen Pflichtverteidiger beanspruche und der Antrag nicht von seinem Verteidiger in dessen Namen gestellt werde. Eine Beiordnung sei bereits nach § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO geboten.

Entscheidung

Die sofortige Beschwerde sei zwar zulässig, aber unbegründet. Es liege kein Fall der notwendigen Verteidigung vor.

Eine Beiordnung sei nicht nach § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO geboten, da es sich bei B nicht um einen sprachbehinderten Beschuldigten im Sinne der Vorschrift handele. Nicht jeder von der Norm abweichende körperliche Zustand eines Beschuldigten begründe eine Seh-, Hör- beziehungsweise Sprachbehinderung im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO. Anderenfalls würde auch ein leicht fehlsichtiger Beschuldigter, der auf eine Brille angewiesen sei, unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen. Dies sei ersichtlich weder vom Gesetzgeber gewollt noch vom Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung ausgehend geboten. Geringfügige Sprachbehinderungen fielen damit nicht in den Anwendungsbereich des § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO.

Nichts anderes folge auch aus der Historie der Norm. In Bezug auf hör- und sprachbehinderte Beschuldigte sei bereits eine entsprechende Regelung in § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. enthalten gewesen. Bei der Auslegung der Vorschrift sei Stottern lediglich dann als ausreichend für eine Beiordnung angesehen worden, wenn die Behinderung einen solchen Grad angenommen habe, dass die Befürchtung bestehe, der Beschuldigte werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen können. Für eine solche Auslegung habe die systematische Stellung gesprochen, da Abs. 1 der damaligen Fassung unter anderem den Fall der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung beinhaltete. Die gesonderte Regelung der Hör- und Sprachbehinderung in Abs. 2 habe ihre Ursache lediglich darin gehabt, dass in Ansehung des Selbstbestimmungsrechts in diesen Fällen nicht per se von einer generellen Verteidigungsunfähigkeit ausgegangen wurde, sondern ein Antrag des Betroffenen erforderlich seien sollte. Mit der Änderung der Norm sei lediglich eine Erweiterung auf sehbehinderte Beschuldigte beabsichtigt gewesen; in Bezug auf hör- und sprachbehinderte Beschuldigte sei hingegen das vorherige Recht als ausreichend angesehen worden. Dafür, dass an dieser Systematik nicht mehr festzuhalten sei, spreche nach dem oben Ausgeführten nichts.

Im vorliegenden Fall bestehe nicht die Befürchtung, dass B wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen könne. Es bestehe auch nicht die Annahme, dass er aufgrund der mit seiner Behinderung verbundenen psychischen Drucksituation nichts sagen wolle. Aus diesem Grund könne daraus kein Fall der notwendigen Verteidigung folgen. So habe B zunächst bereits nach dem Eintreffen der Polizeibeamten am Ort des Geschehens diesen gegenüber Angaben gemacht und sich dabei verständlich machen können. Nach Erhebung der Anklage habe er gegenüber einem Mitarbeiter telefonisch zum Sachverhalt Stellung genommen. Dabei sei sein Stottern geringer gewesen, als er sich nicht auf Deutsch, sondern - für ihn vertrauter - auf Englisch äußerte. Im Hauptverhandlungstermin, bei dem B nicht durch einen Rechtsanwalt verteidigt war, und ausschließlich ein Dolmetscher für ihn anwesend war, habe sich B ausführlich geäußert. Dafür, dass ihm - wie B in seiner Beschwerde in Bezug auf die bevorstehende Berufungshauptverhandlung vorbringe - in der entsprechenden Konstellation die Möglichkeit genommen worden sei, seine Sicht der Dinge zu dem Geschehensablauf eingehend darzulegen, spreche danach nichts. Auch im Termin zur Berufungshauptverhandlung werde ein Dolmetscher anwesend sein, sodass sich B in seiner Muttersprache äußern könne. Die Kammer sei sich zudem bewusst, dass aufgrund des Stotterns des Angeklagten gegebenenfalls vermehrt Rückfragen an diesen zu stellen seien und ihm, falls er - wie anlässlich der (beabsichtigten) polizeilichen Beschuldigtenvernehmung - im Rahmen seines Stotterns in Aufregung geriete, auch - etwa durch eine kurze Unterbrechung der Verhandlung - die Möglichkeit eingeräumt würde, sich zu beruhigen und in seiner Schilderung der Geschehnisse oder bei sonstigen Ausführungen erneut anzusetzen.

Praxishinweis

Die Entscheidung des OLG Braunschweigs steht im Widerspruch zu der Gesetzesbegründung und verkennt die Historie des in der Norm enthaltenen Antragsrechts.

Durch die Gesetzesänderung wurde die vormalige Regelung zu hör- und sprachbehinderten Beschuldigten des ehemaligen Abs. 2 in § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO integriert und neugefasst. Ziel war – wie auch das OLG erkennt – die Erweiterung auch auf Sehbehinderte, die zuvor nicht explizit in der Norm erfasst waren. Dies lag vor allem darin begründet, dass 1987 der Wortlaut der Norm (damals noch § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO) zunächst auch auf den Fall des blinden Beschuldigten erweitert, dann aber aufgrund der Kritik der Blindenverbände wieder anpasste wurde. Die damalige begründete Kritik fußte darauf, dass die alte Fassung der Norm generell einen Fall der notwendigen Verteidigung vorsah und den Betroffenen so unabhängig von dem Umfang der Beeinträchtigung die Verteidigungsfähigkeit absprach. Im Hinblick darauf, dass sowohl Blinde als auch Hör- und Sprachbehinderte durchaus anspruchsvolle und auch juristische Berufe ausüben, ist eine solche Pauschalisierung nicht gerechtfertigt. Als einzige Bestimmung des Katalogs macht Nr. 11 daher das Vorliegen notwendiger Verteidigung von einem Antrag des Beschuldigten abhängig und trägt damit dem Selbstbestimmungsrecht Rechnung (BT-Drs. 19/13829, 35). Dies hat aber nicht zur Folge, dass dem Gericht bei der Entscheidung über den Antrag ein Ermessen zukommt.

In der Gesetzesbegründung zur Fassung des § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO heißt es nämlich: „Mit dem Entwurf soll der in § 140 Absatz 1 Nummer 11 StPO-E geregelte Fall antragsgebundener notwendiger Verteidigung künftig auch auf sehbehinderte Beschuldigte erstreckt werden; denn nach derzeitiger Rechtslage stehen diese schlechter als sprach- oder hörbehinderte Beschuldigte. Letztere haben – unabhängig vom Bestehen oder Nichtbestehen der Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen – einen Anspruch auf Verteidigerbestellung, sofern sie nur einen Antrag stellen, während dies bei Sehbehinderten nicht der Fall ist.“

Die Gesetzesbegründung macht damit deutlich, dass das Antragserfordernis in Nr. 11 gerade nicht von der Fähigkeit sich selbst zu verteidigen abhängig ist, sondern alleine dem Selbstbestimmungsrecht Rechnung trägt. Beantragt der sprachbehinderte Beschuldigte also eine Beiordnung kann ihm diese – insbesondere vor dem Mündlichkeitsgrundsatz und der Bedeutung des gesprochenen Wortes in der Hauptverhandlung – nicht verwehrt werden.

OLG Braunschweig, Beschluss vom 25.05.2021 - 1 Ws 121/21 (LG Braunschweig), BeckRS 2021, 38575