NJW-Editorial
Stachelfragen aus Luxemburg
NJW-Editorial

Das Landgericht Ravensburg hatte im Diesel-Skandal einige Fragen an den EuGH. Dieser hat sie mit seinem Urteil vom 21.3. spektakulär beantwortet.  Wobei die Entscheidung aus Luxemburg ihrerseits viele Fragen aufwirft. Sie stellen sich vor allem dem Gesetzgeber, den Herstellern und den Verbrauchervertretern.

11. Apr 2023

„Die europäischen Kfz-Abgasvorschriften schützen auch die Einzelinteressen des Kfz-Käufers gegenüber dem Hersteller (Rn. 85). Die Mitgliedstaaten müssen ­vorsehen, dass der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschaltvorrichtung ausgestatteten Fahrzeugs, dem dadurch Schaden entstanden ist, einen Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller hat (Rn. 91). Eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigungen oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeuges gewährleistet wäre, liefe offensichtlich dem mit den Abgasvorschriften verfolgten Ziel ­zuwider (Rn. 65). Die gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein (Rn. 90). Nationale Rechtsvorschriften, die es dem Käufer des Kraftfahrzeugs praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, einen angemessenen Ersatz des Schadens zu erhalten, der ihm durch den Verstoß des Herstellers dieses Fahrzeuges gegen die genannten Vorschriften entstanden ist, stünden mit dem Grundsatz der Effektivität nicht in Einklang (Rn. 93). Die Anrechnung des Nutzungsvorteils muss eine angemessene Entschädigung gewährleisten (Rn. 95).“ Aussagen des EuGH-Urteils vom 21.3.​ (BeckRS 2023, 4652), die die Welt erschüttern – jedenfalls die deutsche des „Dieselschadensersatzrechts“.

Welterschütterungen werfen Fragen auf: Ist der „Dieselskandal“ zivilrechtlich über § 823 II BGB und nicht nur – wie bislang – über § 826 BGB zu lösen? Was gilt dann für die Kläger, deren Klagen wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des § 826 BGB abgewiesen worden sind, aber auf der Grundlage des § 823 II BGB Erfolg gehabt hätten? Rechtskraft (vgl. § 79 II BVerfGG; BGH NJW 2013, 1676) vor Gleichbehandlung auch bei einem Massenphänomen? Verlagerung in die Staatshaftung (EuGH NJW 2006, 3337) oder bei nicht ausgeschöpftem Rechtsweg in die Anwaltshaftpflicht(-Versicherung)? Wie bemisst sich die abschreckende Wirkung des Schadensersatzes, wenn die Nutzungsvorteile den eigentlichen materiellen Schaden aufzehren? Videant iudices oder – bei einem Massenphänomen – Handlungspflicht des Gesetzgebers zur Gewährleistung einer abschreckenden Schadensersatzsanktion? Was bleibt vom Justizgewährleistungsanspruch Einzelner, wenn die Kapazitäten der deutschen Justiz durch weitere Dieselmassenklagewellen in Anspruch genommen werden – neben dem Thermofenster stehen auch andere Vorrichtungen in Rede, derentwegen ein Fahrzeug „draußen“ überwiegend anders läuft als „drinnen“? Will die erste Gewalt zusehen, wie die dritte Gewalt vollläuft? Und was ist mit der zweiten, die an dem Schlamassel wohl nicht ganz unschuldig ist? Ist es an der Zeit für eine konzertierte Aktion von Bund, Herstellern und Verbrauchervertretern?

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Dr. Wendt Nassall ist Rechtsanwalt beim BGH, Karlsruhe.