NJW-Editorial
Selbstkritik im Steuerrecht
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Für das Steuerrecht ist im Cum/Ex-Komplex Selbstkritik geboten. Lange wurde die Rechtmäßigkeit des Modells im Fachdiskurs ernsthaft erwogen. Berater können die Grenzen der Steuertatbestände austesten, die Fachöffentlichkeit sollte aber fadenscheinig formalistische, einseitig wortlautbasierte Argumente schneller verwerfen.

31. Mrz 2022

Der BFH hat eine lang erwartete Grundsatzentscheidung zu den Cum/Ex-Geschäften gefällt (NJW 2022, 1038). Dabei geht es um die Erstattung einbehaltener Kapitalertragsteuer auf Dividenden. Unter bestimmten Bedingungen kann steuer­rechtlich maßgebliches wirtschaftliches Eigentum bereits vor dem zivilrechtlichen ­Eigentumswechsel erworben werden. Durch (Leer-)Verkauf einer Aktie mit ("cum") ­Dividendenanspruch vor dem Ausschüttungsstichtag und Lieferung der Aktie nach dem Stichtag ohne ("ex") Dividendenanspruch von einem Wertpapierverleiher, dafür mit ­einer Kompensationszahlung in Höhe der Nettodividende, gelang es Verleihern wie Käufern, eine Erstattung zu erlangen - obgleich die Kapitalertragsteuer nur einmal auf die Dividenden, nicht aber auf die Kompensationszahlung erhoben wurde. Dass dies nicht richtig sein kann, haben die Strafgerichte schnell erkannt. Der BFH hat nun mit erfreulicher Klarheit nachgezogen: § 39 AO besagt eindeutig, dass ein wirtschaftlicher Eigentümer an die Stelle des zivilrechtlichen Eigentümers tritt, es also nicht mehrere (Voll-)Eigentümer gleichzeitig geben kann. Zudem setzt das wirtschaftliche Eigentum voraus, dass der zivilrechtliche Eigentümer für die gewöhnliche Nutzungszeit der ­Aktie wirtschaftlich von deren Nutzung ausgeschlossen ist. Das ist bei einem kurzzeitigen Dividendenstripping rund um den Ausschüttungszeitpunkt, bei welchem dem Käufer vertraglich jegliches Kursrisiko abgenommen wird, ersichtlich nicht der Fall.

Für das Steuerrecht ist Selbstkritik geboten. Lange wurde die Rechtmäßigkeit im Fachdiskurs ernsthaft erwogen. Die Komplexität der Schnittstelle von Kapitalmarkt, Steuer­recht und Massenverwaltung wurde zur Verschleierung genutzt, die einzelnen Gestaltungselemente in der Diskussion lange getrennt behandelt. Es gelang sogar, die Finanz­verwaltung zu verunsichern - mit der Folge, dass die Gesetzesbegründung zum Jahres­steuergesetz 2007 selbst den Eindruck einer doppelten Zurechnung zuließ (BT-Drs. 16/2721, 48). Berater können die Grenzen der Steuertatbestände austesten, doch sollte der Fachdiskurs fadenscheinig formalistische, einseitig wortlautbasierte Argumente schneller verwerfen. Es wirft Fragen auf, wenn Steuergesetze so eng am Wortlaut ausgelegt werden wie Strafgesetze (wenn nicht sogar enger). Auch wenn etwas nicht ausdrücklich verboten ist, ist es nicht automatisch zulässig. Systemdenken wird zu Gunsten des Steuerpflichtigen zu Recht eingefordert, muss aber auch zu dessen Lasten gelten. Die Rechtsprechung sollte neben dem § 39 AO auch die hier nahe­liegende Abwehr von Gestaltungsmissbrauch nach § 42 AO maßvoll effektuieren. Die Finanzverwaltung hat jahrelang Erstattungen fast auf Vertrauensbasis vorgenommen und sehr langsam reagiert. Europäische Impulse wie die Anzeigepflicht für Steuer­gestaltungen, aber auch die Möglichkeiten der Digitalisierung (Verknüpfung von Einbehalt und Erstattung über Aktien- und Dividenden-ID) weisen in die Zukunft.

Prof. Dr. Matthias Valta lehrt Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Universität Düsseldorf.