NJW: Wie finden Sie als Schriftsteller und Jurist unseren Verfassungstext?
Oswald: Mir fällt dazu der Satz von Thomas Mann ein: „Ich habe geruht, mir eine Verfassung zu geben.“ Er beschrieb damit sein Verhältnis zu seinem eigenen Leben. Aber auch für eine freie Gesellschaft ist das eine großartige Möglichkeit: sich selbst eine Verfassung zu geben. Ob man sich an sie hält, ob man an ihr zweifelt, ob man von ihr abrückt, sie uminterpretiert, neu fasst – das sind alles Fragen, die sich daran anschließen, aber erst später. Zunächst einmal besticht die enorm selbstbewusste und freie Idee einer selbstbestimmten Gesellschaft. Das ist natürlich sehr idealistisch gesprochen. Aber es ist wohl nicht verkehrt, sich diese Idee immer wieder vor Augen zu halten. Das Grundgesetz ist in einer historischen Situation entstanden, die von unserer heutigen sehr verschieden war. Die folgenden Generationen haben etwas ganz Eigenes daraus gemacht. Also, um Ihre Frage so flapsig zu beantworten, wie sie gestellt ist: Ich finde unseren Verfassungstext gut, weil sich was daraus machen lässt.
NJW: Gibt es Artikel oder Formulierungen, die Sie für ganz missglückt halten?
Oswald: Die Formulierung des Artikel 1 wird in der ganzen Welt bewundert und ist in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Die Regeln zum Föderalismus hingegen, schreibt Benjamin Lahusen in seinem Beitrag, „wirken mitunter wie ein flüchtig sortierter Zettelkasten der Staatsorganisation“. Ähnliches ließe sich auch über die Regelungen zum Finanzausgleich sagen. Aber es hat wenig Sinn, die Verfassung wie ein Sprachkunstwerk zu betrachten. Die Frage ist vielmehr, ob sie als Grundlage für eine demokratische Gesellschaft taugt. Diese Frage können wir trotz aller Kritik und trotz aller Mängel wohl eindeutig bejahen.
NJW: Sie haben vor einigen Jahren ein Sachbuch veröffentlicht, in dem Sie die Grundrechte allgemeinverständlich erklären und ihre gesellschaftliche Relevanz aufzeigen. Wie war die Resonanz darauf?
Oswald: Ich habe in meiner juristischen Arbeit immer wieder festgestellt, wie wenig geläufig vielen Menschen die Grundlagen unserer Rechtsordnung sind und wie groß die Scheu ist, sich damit zu beschäftigen, wohl auch aus Furcht davor, sie nicht richtig zu verstehen oder als unwissend zu erscheinen. Ich wollte ein knappes Kompendium schreiben, das die wichtigsten Regelungen und ihr Verhältnis zueinander erläutert. Bei den Lesungen aus dem Buch habe ich unter anderem gelernt, wie unterschiedlich im Osten und Westen auf die Verfassung geblickt wird. Durch die Pandemie hat der Blick auf die Grundrechte noch einmal eine ganz neue Dimension erhalten. Es ist ins öffentliche Bewusstsein gerückt, dass jedes Recht dort endet, wo die Rechte anderer beginnen. Diese Grenzen zu diskutieren, auszuhandeln, vor allem aber zuerst einmal anzuerkennen, ist eine große gesellschaftliche Herausforderung.
NJW: Ist den Bürgerinnen und Bürgern der Wert unserer Verfassung bewusst?
Oswald: Das glaube ich schon, aber sie haben berechtigterweise viele kritische Fragen, die sie sich nicht immer zu stellen trauen. Das scheint mir eine wichtige Botschaft zu diesem Thema: Es gibt keine dummen Fragen. Aber die Verfassung sorgt auch für Enttäuschungen. Anstelle von eindeutigen Antworten stellt sie immer nur das Instrumentarium zur Verfügung, mit dem wir uns die richtigen Antworten erarbeiten sollen.
NJW: Zum aktuellen Buch: Wie entstand die Idee eines literarischen Kommentars zum Grundgesetz?
Oswald: Sie ist in gewisser Weise eine Weiterentwicklung der Idee zum Grundrechtebuch. Als ich mit dem Verlag darüber sprach, waren wir uns schnell einig, dass hier nicht Fachleute für Fachleute schreiben sollten, sondern wortgewandte Autorinnen und Autoren aus ihrer subjektiven Perspektive für Leserinnen und Leser, die nicht unbedingt spezifisches juristisches Wissen haben. Schriftsteller und Journalisten verstehen davon auch nicht mehr als alle anderen, aber sie schreiben hier ja eben nicht als Fachleute, sondern als Bürgerinnen und Bürger.
NJW: Was genau macht den Kommentar zu einem literarischen?
Oswald: Den Begriff des Literarischen fassen wir weit. Es sollte nicht darum gehen, die Arbeit der Juristen literarisch zu veredeln, sondern sie kritisch zu betrachten. Ich zitiere aus dem Vorwort: „Der Essay als literarische Form und der Perspektivwechsel als genuin literarisches Verfahren erschienen uns dafür geeignet.“ Aber letztlich ging es uns um eine subjektive Herangehensweise. Es finden sich auch Erzählungen in dem Band, und die Schriftstellerin Annette Pehnt hat sich in ihrem Text zur „Unverletzlichkeit der Wohnung“ für ein lyrisches Verfahren entschieden.
NJW: An dem Kommentar haben namhafte Juristen, Journalistinnen und Schriftstellerinnen mitgewirkt. Nach welchen Kriterien haben Sie sie ausgewählt?
Oswald: Wir haben uns überlegt, von welchen Autorinnen und Autoren wir uns spannende, aufschlussreiche Texte zu den jeweiligen Themen und GG-Artikeln erhoffen dürfen. Etwa, weil sie schon zu den Themenkreisen publiziert hatten, zu denen wir sie eingeladen haben. Natürlich hatten wir Wunschkandidatinnen und -kandidaten. Die meisten von ihnen sagten zu.
NJW: Welche Vorgaben haben Sie ihnen gemacht? Oder hatten sie alle Freiheiten?
Oswald: Sie hatten alle Freiheiten, genau darauf kam es uns ja an. Nur bei der Auswahl der GG-Artikel machten wir Vorschläge, aber auch da waren wir, soweit es ging, flexibel.
NJW: Was macht die Perspektive derjenigen Autoren, die ohne einen juristischen Hintergrund unsere Verfassung betrachten und kommentieren, so interessant?
Oswald: Die weitaus meisten Menschen in unserem Land haben keinen juristischen Hintergrund. Aber um von der Bevölkerung akzeptiert zu werden, muss eine Rechtsordnung verständlich sein und ihre wesentlichen Inhalte müssen geteilt werden. Wir Juristen sollten uns hüten zu glauben, nur wir könnten Substantielles dazu sagen.
NJW: Und wurden die Juristenautorinnen und -autoren den literarischen Ansprüchen gerecht?
Oswald: Absolut! Flammende Essays, feuilletonistische Vignetten, elegante Betrachtungen. Ich weiß nicht, ob in jedem Juristen ein Dichter steckt, der heraus will, aber die juristischen Autorinnen und Autoren schienen Vergnügen daran zu haben, einmal nicht für ein wissenschaftliches Publikum zu schreiben. Insgesamt war ich erstaunt, wie glänzend manche Juristen schreiben und wie juristisch gewandt manche Schriftstellerinnen formulieren.
NJW: Ist es Zufall, dass der literarische GG-Kommentar zu einem Zeitpunkt erscheint, da existenzielle Krisen das Tagesgeschehen beherrschen und nicht wenige den demokratischen Rechtsstaat in Gefahr sehen?
Oswald: Die Themen haben uns alle auch schon vorher beschäftigt, aber sie erscheinen angesichts der jüngsten Ereignisse in einem anderen Licht. Die Abwägung zwischen Freiheitsrechten und dem Recht auf Leben erfuhr durch die Pandemie eine Zuspitzung, die wir zuvor nicht in diesem Ausmaß kannten. Der russische Überfall auf die Ukraine macht die Regelungen zum Verteidigungsfall plötzlich sehr konkret. Was bedeutet das Sozialstaatsprinzip angesichts einer bisher beispiellosen Entwicklung von Inflation und Energiekosten? Die Verfassung muss sich in Krisenzeiten auf ganz neue Weise bewähren.
Georg M. Oswald ist Schriftsteller und Jurist. Er praktizierte lange als Rechtsanwalt in München. Sein Roman „Alles, was zählt“ wurde mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen das Sachbuch „Unsere Grundrechte“ (2018) und der Roman „Vorleben“ (2020).
An dem literarischen Kommentar zum GG haben unter anderem mitgewirkt: Susanne Baer, Patrick Bahners, Udo Di Fabio, Friedemann Karig, Andrian Kreye, Michael Krüger, Benjamin Lahusen, Sibylle Lewitscharoff, Jonas Lüscher, Ijoma Mangold, Florian Meinel, Eva Menasse, Martin Mosebach, Herta Müller, Angelika Nußberger, Sophie Schönberger, Ronen Steinke, Andreas Voßkuhle und Feridun Zaimoglu.
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