Interview
Selbstbestimmung bis zum Tod
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Vor rund einem Jahr hat das BVerfG entschieden, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf einen selbstbestimmten Tod umfasst. Seither ist die Rechtslage für Sterbewillige und Ärzte unklar. Drei Gesetzentwürfe – zwei davon aus der Mitte des Bundestags – wollen nun auf unterschiedliche Weise Abhilfe schaffen, aber auch etwaige Missbräuche verhindern. Im Interview mit der NJW bewertet der Leiter des Dezernats Recht der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Karsten Scholz, die aktuelle Rechtslage und die Regelungsvorschläge.

4. Mrz 2021

NJW: Bevor wir uns die drei Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Sterbehilfe genauer anschauen: Wie ist die Ausgangslage für den Gesetzgeber nach der Entscheidung des BVerfG?

Scholz: Das BVerfG leitet aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben ab. Das umfasst die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig darf der Gesetzgeber aber die Autonomie Suizidwilliger und darüber hinaus auch das hohe Rechtsgut Leben schützen und dazu auch das Mittel des Strafrechts einsetzen. Daher gilt es, einerseits ein Schutzkonzept zur Wahrung der Autonomie zu entwickeln, das aber andererseits keine zu hohen Hürden aufbauen darf. Suizidwilligen muss im Einzelfall ein realer Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe eröffnet bleiben.

NJW: Vor allem beim assistierten Suizid ist die Rechtslage aktuell unklar. Was bedeutet dieser Schwebezustand für Ärzte und Patienten?

Scholz: Es gilt die Rechtslage wie vor Einführung des § 217 StGB. Die Beihilfe zum Suizid, auch wenn sie gewerblich oder geschäftsmäßig angeboten wird, ist straflos. In einem aktuellen Beschluss hat das BVerfG argumentiert, dass sich die Möglichkeiten, den Wunsch nach einem selbstbestimmten Lebensende zu verwirklichen, durch sein Urteil wesentlich verbessert hätten. Es ermögliche die Suche nach medizinisch kundigen Suizidbeihelfern und solchen, die berechtigt und bereit sind, Medikamente zum Zweck der Selbsttötung zu verschreiben. Das Gericht sieht auch im Betäubungsmittelrecht zurzeit keine unüberwindliche Hürde. Andererseits bestimmt die (Muster-)Berufsordnung weiterhin, dass Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Der Deutsche Ärztetag wird Anfang Mai zur Thematik des ärztlich assistierten Suizids eine Grundsatzdebatte führen und dabei auch über eine mögliche Änderung der Berufsordnung beraten.

NJW: Nun gibt es drei Gesetzentwürfe bzw. -vorschläge. Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die wesentlichen Unterschiede?

Scholz: Alle Entwürfe stellen klar, dass es einer vorangehenden Beratung und Feststellungen zur Freiverantwortlichkeit der Entscheidung zum Suizid bedarf. Das Verschreiben des Suizidmittels soll unter einem Arztvorbehalt stehen. Der Entwurf Helling-Plahr/Lauterbach et al. orientiert  sich stark an der Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch, der Entwurf Künast/ Keul beschreibt sehr viel detaillierter den Zugang zur Suizidhilfe. Der Professorenvorschlag aus Augsburg, München und Halle will auch die aktive Sterbehilfe unter sehr engen Voraussetzungen ermöglichen.

NJW: Wie bewerten Sie die Vorschläge im Hinblick auf die Vorgaben des BVerfG?

Scholz: Ich würde nicht von Vorgaben sprechen. Das BVerfG hat Hinweise gegeben, wie man in verfassungskonformer Weise das Recht auf selbstbestimmtes Sterben einschränken kann. Das greifen alle Gesetzentwürfe auf. Das ist aber kein abschließendes Instrumentarium, das heißt weitergehende Maßnahmen sind denkbar. Außerdem steht es dem Gesetzgeber frei, es bei der geltenden Rechtslage zu belassen. Eine besondere Herausforderung stellt es dar, eine in sich konsistente Regelung zu schaffen, welche die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes wahrt. Der „Professorenentwurf“ sieht eine Annexkompetenz des Bundes vor, das ärztliche Berufsrecht mit zu regeln, empfiehlt aber gleichzeitig eine klarstellende Änderung des Grundgesetzes. Auch der interfraktionelle Entwurf zielt darauf ab, Ärzten eine Schlüsselposition zuzuweisen. Ohne sie ist eine Suizidassistenz eigentlich gar nicht möglich. Zugleich soll ihnen, so will es der Gesetzentwurf, nicht untersagt werden dürfen, Suizidhilfe zu leisten oder Hilfeleistung zu verweigern. Damit will man offenbar entgegenstehende Regelungen des Berufsrechts sperren.

NJW: Der Verwirklichung eines ernsthaften Suizidwunsches stehen faktische Hindernisse entgegen, etwa die fehlende Möglichkeit, Medikamente zur Selbsttötung zu erhalten. Wie wird dieses Problem gelöst?

Scholz: Alle drei Gesetzentwürfe sehen vor, dass sie künftig unter bestimmten Voraussetzungen von Ärzten verschrieben werden können. Der Entwurf Künast/ Keul will die Entscheidung über den Zugang zu den Betäubungsmitteln außer in sogenannten medizinischen Notfällen durch eine Landesbehörde treffen lassen. Bisher liegt die Entscheidungsbefugnis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, welches die Anträge bekanntlich durchgehend ablehnt.

NJW: Geben die Vorschläge Ärzten und Betreuern die Rechtssicherheit, die sie brauchen, wenn sie Hilfe zur Selbsttötung leisten – oder welchem Entwurf gelingt das am besten?

Scholz: Ich würde einem Betreuer davon abraten, selbst Suizidhilfe zu leisten. Für Ärzte würde es größtmögliche Rechtssicherheit bedeuten, wenn eine interdisziplinäre Kommission nach persönlicher Anhörung des Suizidwilligen beurteilt, ob ein freiverantwortlich gebildeter Sterbewille vorliegt. Das sieht der Augsburg- Münchener-Hallesche-Entwurf vor.

NJW: Dreh- und Angelpunkt in allen drei Vorschlägen ist der bereits mehrfach erwähnte autonome und frei gebildete Wille des Suizidenten, der durch Beratungs- und Aufklärungspflichten zum Teil innerhalb bestimmter Fristen geschützt werden soll. Wird sich das in der Praxis bewähren?

Scholz: Eine Hausärztin hat mir einmal berichtet, einer ihrer Patienten habe sich suizidiert. Sie hätte ihn über lange Zeit behandelt, sehr viele Gespräche mit ihm geführt, ihm vorübergehend auch immer wieder eine stationäre Behandlung angeraten, die er wahrgenommen habe. Im letzten Gespräch habe sie seine akute Suizidalität hingegen nicht erkannt. Man wird also manche Menschen durch Beratung und Aufklärung erreichen, und andere werden sich immer oder in einer bestimmten Lebensphase verschließen. Und natürlich ist es sinnvoll, durch bestimmte Mindestfristen, die zwischen Beratung und Umsetzung des Suizidwunsches liegen müssen, auf dessen Dauerhaftigkeit zu schließen. Aber ob sich das bewähren wird, das vermag ich nicht einzuschätzen. Dazu werden aber Suizidforscher wichtige Hinweise geben können.

NJW: Wo sollte die Sterbehilfe rechtlich angesiedelt werden?

Scholz: Ich bezweifele, dass es ein gutes Signal wäre, ein eigenständiges Selbstbestimmtes-Sterben-Gesetz zu schaffen. Ich würde ein Artikelgesetz bevorzugen und mögliche Strafnormen ins Kernstrafrecht aufnehmen, schon um den Kontext zu § 216 StGB zu bewahren. Beratungsangebote und deren Finanzierung kann man in ein eigenes Gesetz auslagern. Flankierend bedarf es Anpassungen im Betäubungsmittelrecht.

NJW: Welcher der drei Vorschläge wird am ehesten den Bedürfnissen der Praxis gerecht?

Scholz: Ich finde es enttäuschend, dass nur der Professorenentwurf einen besonderen Abschnitt zur Suizidprävention enthält. Angesichts der nicht geringen Zahl von Patienten, die in einer bestimmten Lebensphase suizidale Gedanken haben, ist das ein ganz wichtiger Punkt für die parlamentarische Debatte. Diese Gruppe, der wir deutlich mehr Hilfsangebote machen müssen, ist sehr viel größer als diejenige, die etwa eine mögliche palliative Behandlung ablehnt oder aus anderen Gründen um Suizidhilfe nachsucht. Die Motive für einen Suizidwunsch sind so verschieden, dass kein Gesetz für alle Fälle eine praxisgerechte Lösung wird anbieten können. Und wir sollten kritisch prüfen, ob es für einen todsterbenskranken Menschen zumutbar ist, in einer Videokonferenz seine Motive gegenüber einer Landeskommission darzulegen. Ich halte es daher für richtig, dass der Entwurf der Grünen differenzierte Regeln für Schwerkranke und Lebensmüde trifft. •

Seit Januar 2020 leitet Prof. Dr. Karsten Scholz die Rechtsabteilung der Bundesärztekammer (BÄK) in Berlin. Zuvor war er viele Jahre Justiziar der Ärztekammer Niedersachsen. Als Honorarprofessor lehrt er an der Leibniz Universität Hannover. Daneben ist er Mitglied im Akademischen Beirat des Medizinrechtsinstituts an der Bucerius Law School in Hamburg.

Interview: Dr. Monika Spiekermann.