Schutz der De­mo­kra­tie

Das BVerfG hat über die um­strit­te­ne Wahl­rechts­re­form 2023 ent­schie­den (2 BvF 1/23 ua, BeckRS 2024, 18497). Nach dem Ur­teil soll­te der Ge­setz­ge­ber er­neut tätig wer­den. Hier­in liegt eine große Chan­ce für die De­mo­kra­tie.

8. Aug 2024

Bei einer Bun­des­tags­wahl hat jeder Wäh­ler zwei Stim­men. Mit der Erst­stim­me ent­schei­det er, wel­cher Ab­ge­ord­ne­te den Wahl­kreis ver­tritt (Mehr­heits­wahl). Mit der Zweit­stim­me wer­den die Par­tei­en ge­wählt (Ver­hält­nis­wahl). Der Bun­des­tag hat die­ses Sys­tem im März 2023 grund­le­gend ge­än­dert. Die di­rekt ge­wähl­ten Ab­ge­ord­ne­ten er­hal­ten nur ein Man­dat, wenn dies durch das Zweit­stim­men­er­geb­nis ge­deckt ist. Die Ab­ge­ord­ne­ten­stim­me wird der Par­tei­stim­me un­ter­ge­ord­net. Gemäß Art. 38 I 1 GG wer­den die Ab­ge­ord­ne­ten des Bun­des­tags und nicht pri­mär Par­tei­en oder Frak­tio­nen ge­wählt. Den­noch hat das BVerfG den Sys­tem­wech­sel ge­bil­ligt. Gleich­zei­tig hat es das Ver­ständ­nis der Fünf-Pro­zent-Klau­sel ent­schei­dend ge­schärft. Par­tei­en, die we­ni­ger als fünf Pro­zent der Zweit­stim­men er­hal­ten, zie­hen nicht in den Bun­des­tag ein. Der Aus­schluss von klei­nen Par­tei­en schützt das Par­la­ment vor einer Zer­split­te­rung der po­li­ti­schen Kräf­te. Die­ser Schutz greift ins Leere, wenn zwei Par­tei­en wie die CDU und CSU par­al­le­le Ziele ver­fol­gen, eine Frak­ti­on im Bun­des­tag bil­den und keine Wett­be­wer­ber sind. Die CSU, die nur in Bay­ern an­tritt, darf daher nicht an der Klau­sel, die sich auf das Bun­des­ge­biet be­zieht, schei­tern. Des­halb gilt nach der Ent­schei­dung des BVerfG die Grund­man­dats­klau­sel, die der Bun­des­tag ab­schaf­fen woll­te, fort. Die CSU wird nun mit allen ihren Stim­men in den Bun­des­tag ein­zie­hen, weil ihre Di­rekt­kan­di­da­ten min­des­tens drei Wahl­krei­se ge­win­nen. Die Erst­stim­me, die ei­gent­lich der Zweit­stim­me un­ter­ge­ord­net wer­den soll­te, er­hält ein be­son­de­res Ge­wicht.

Es ist nun an der Po­li­tik, das Wahl­sys­tem er­neut zu kor­ri­gie­ren. Hier­in liegt eine große Chan­ce für die De­mo­kra­tie, wenn vier Grund­satz­fra­gen be­dacht wer­den. Ers­tens soll­te das Wahl­recht so ver­ein­facht wer­den, dass es allen Wäh­lern leicht ver­ständ­lich ist. Zwei­tens ist eine Wahl­rechts­re­form hei­kel, weil die Mehr­heit im Bun­des­tag in ei­ge­ner Sache ent­schei­det und dabei ihre Macht bei kom­men­den Wah­len si­chern will. Drit­tens kün­di­gen un­ter­schied­li­che de­mo­kra­ti­sche Kräf­te an, das Wahl­sys­tem er­neut än­dern zu wol­len. Doch darf das Sys­tem nicht zum Spiel­ball der Mehr­hei­ten und Le­gis­la­tu­ren wer­den. Vier­tens will man sich nicht vor­stel­len, dass in Zu­kunft ex­tre­me Kräf­te mit ­einfacher Mehr­heit das Wahl­recht zu ihren Guns­ten än­dern kön­nen.

Die De­mo­kra­tie kennt einen Me­cha­nis­mus, der das Wahl­sys­tem schützt, des­sen Kon­ti­nui­tät si­chert, das Ver­trau­en der Wäh­ler in das Par­la­ment fes­tigt und heik­len Ent­schei­dun­gen in ei­ge­ner Sache be­geg­net: Der Bun­des­tag soll­te in einem brei­ten de­mo­kra­ti­schen Kon­sens mit einer Zwei­drit­tel­mehr­heit ein neues Wahl­recht be­schlie­ßen. Gleich­zei­tig ist das Grund­ge­setz zu än­dern, damit jede neue Wahl­rechts­än­de­rung die­ser Mehr­heit be­darf. Das schul­det das Par­la­ment der De­mo­kra­tie.

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Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL.M. (Notre Dame), ist Professor an der Universität Augsburg.