Urteilsanalyse
Schmerzensgeld für Erinnerung an vergangene belastende Ereignisse durch Unfallhergang
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Primärverletzung bezeichnet die für die Erfüllung der § 823 Abs. 1 BGB und des § 7 Abs. 1 StVG erforderliche Rechtsgutverletzung. Er enthält kein kausalitätsbezogenes Element. Laut BGH können starke Nacken- und Kopfschmerzen als unfallbedingte Primärverletzung nach einem Verkehrsunfall angesehen werden. Der Schädiger habe dabei auch für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung einzustehen, die durch vergangene belastende Ereignisse wieder in Erinnerung gerufen werden.

7. Okt 2022

Anmerkung von
Senator E. h. Ottheinz Kääb, LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 19/2022 vom 28.09.2022

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StVG §§ 7 I11; BGB § 823

Sachverhalt

Die Klägerin will von den Beklagten Schmerzensgeld. Im November 2015 fuhr der Versicherungsnehmer des beklagten Haftpflichtversicherers von hinten auf das wegen eines Rückstaus an einer Kreuzung stehende Fahrzeug der Klägerin, in dem diese als Fahrerin saß, auf. Durch den Anstoß wurden unter anderem der Stoßfänger am Pkw der Klägerin hinten durchgestoßen und die Schalldämpferanlage aus der Halterung gerissen. Die Airbags im Fahrzeug der Klägerin öffneten sich nicht.

Bis zu diesem Tag war die Klägerin noch nicht bei einem Unfall verletzt worden. Eine Freundin von ihr war indes bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Darüber hinaus war die Klägerin Ersthelferin bei einem Verkehrsunfall, bei dem zwei Menschen verstarben.

Die Klägerin behauptet, sie sei bei dem Unfall körperlich verletzt worden. Sogleich nach dem Unfall habe sie Kopfschmerzen erlitten. Später am Abend sei ihr übel geworden und sie habe sich übergeben. Dann sei sie ins Krankenhaus gegangen, wo sie geröntgt wurde. Im Anschluss daran sei eine HWS-Distorsion II. Grades diagnostiziert worden. Ihre Nackenmuskulatur habe sich verhärtet gezeigt. Sie sei sodann für drei Tage krankgeschrieben worden. In dieser Zeit habe sie unter schmerzhaften Bewegungseinschränkungen sowie unter starken Kopf- und Nackenschmerzen gelitten. Diese hätten in den Rücken ausgestrahlt. Wegen dieser starken Kopf- und Nackenschmerzen sei sie drei Tage später erneut krankgeschrieben worden, habe Medikamente erhalten und ihr seien physiotherapeutische Behandlungen verordnet worden.

Sie leide immer noch unter Nacken- und Kopfschmerzen. Bis zum Unfall sei sie beschwerdefrei gewesen. Die Klägerin ist der Auffassung, ihr stehe ein Schmerzensgeld von 750 EUR gegen die Beklagten zu. Das Amtsgericht hatte die Klage abgewiesen, das Landgericht die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision hat die Klägerin nun zumindest vorläufig Erfolg.

Rechtliche Wertung

Der BGH hat das landgerichtliche Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht habe ausgeführt, dass der Klägerin kein Schadenersatzanspruch zustehe. Die Kammer sei zwar überzeugt, dass bei der Klägerin Beschwerden und sichtbare Befunde vorgelegen hätten. Auch könne man glauben, dass die Klägerin unter Kopf- und Nackenschmerzen leide. Bei der Klägerin sei ein Muskelhartspann und eine Steilstellung der HWS als sichtbarer Befund festgestellt gewesen. Damit seien auch die von der Klägerin behaupteten Kopf- und Nackenschmerzen vereinbar. Die durchgeführte Beweisaufnahme durch eine Sachverständige habe eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von 4 km/h und eine kollisionsbedingte mittlere Beschleunigung von etwa 11 m/s² festgestellt. Die Sachverständige habe angegeben, es sei sehr unwahrscheinlich, dass eine Verletzungsmöglichkeit für die Wirbelsäule der Klägerin bestanden habe. Die Klägerin habe als angeschnallte Fahrerin eines stehenden Fahrzeugs einen Stoß nach vorne erhalten. Ihr Körper sei aber im Fahrzeug nirgendwo angestoßen. Die Muskelhartspannverletzung und die Steilstellung der Wirbelsäule seien verletzungsspezifisch und träten auch bei unfallunabhängigen Beschwerdebildern immer wieder auf. Eine andere Primärverletzung könne die Kammer nicht feststellen.

Soweit der BGH in einem Urteil vom 23.06.2020 (Az.: VI ZR 435/19BeckRS 2020, 15991, mit Besprechung Kääb in FD-StrVR 2020, 430946) ausgeführt habe, dass auch starke Kopf- und Nackenschmerzen als unfallbedingte Körperverletzung zu bewerten sei, hielt die Kammer dies nicht für überzeugend. Das Verständnis, dass starke Kopf- und Nackenschmerzen bereits eine Primärfolge eines schädigenden Ereignisses darstellen könnten, entspreche nicht der Lebenswirklichkeit. Schmerzen stellten stets lediglich eine Reaktion auf eine vorangegangene Körperverletzung dar. Eine Entstehung der Schmerzen ohne organische Ursache erscheine nicht vorstellbar. Die Kopf- und Nackenschmerzen der Klägerin seien jedenfalls nicht durch den streitgegenständlichen Unfall verursacht worden. Die Schmerzen und auch die geschilderte Übelkeit seien Ausdruck eines psychoreaktiven Zustands. Die Aufregung der Klägerin durch die Erinnerung an den Tod der Freundin könne durchaus zu derartiger An- und Verspannung geführt haben. Vor diesem Hintergrund könne der Unfall zwar im Sinne einer conditio sine qua non nicht hinweggedacht werden. Mit Blick auf das Korrektiv des Schutzzwecks der Normen im Straßenverkehrsrecht müsse eine Haftung gleichwohl ausscheiden, da ein Schutz vor der Erinnerung an vergangene belastende Ereignisse jedenfalls nicht mehr vom Schutzzweck der Norm gedeckt sei.

Nach Ansicht des BGH halten diese Erwägungen der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Zunächst müsse die Diagnose der erstbehandelnden Ärzte in den Vordergrund gestellt werden. Von diesen sei eine HWS-Distorsion II. Grades festgestellt worden, ferner eine Muskelverspannung und eine Steilstellung der HWS. Darüber hinaus habe die Klägerin unter Übelkeit und starken Kopf- und Nackenschmerzen gelitten. Die Revision greife die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht an, dass diese Verletzungen nicht auf den streitgegenständlichen Unfall zurückzuführen seien. Die Revision wende sich aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass keine anderen unfallbedingten Primärverletzungen festzustellen seien. Dies seien die Übelkeit und die starken Kopf- und Nackenschmerzen. Entgegen der Meinung der Berufungskammer müssten diese Folgen als Primärverletzung gewertet werden. Soweit das Berufungsurteil dahin zu verstehen sein sollte, dass diese Kopf- und Nackenschmerzen nicht als Primärverletzung angesehen werden könnten, habe das Berufungsgericht den Bedeutungsgehalt des Begriffs einer Primärverletzung verkannt.

Der Begriff der Primärverletzung bezeichne die für die Erfüllung des Tatbestands der §§ 823 Abs. 1 BGB und § 7 Abs. 1 StVG erforderliche Rechtsgutverletzung. In diesen Bestimmungen würden konkret benannte Rechtsgüter geschützt und sie sähen Sanktionen in Form von Schadenersatz vor. Allerdings nur für den Fall, dass eine Rechtsgutverletzung – unstreitig oder mit Strengbeweis nachgewiesen – feststehe. Das Handeln des Schädigers ohne festgestellte Rechtsgutverletzung scheide aber als Rechtsgrundlage aus wie auch ein eventueller Verdacht. Der Begriff der Primärverletzung enthalte kein kausalitätsbezogenes Element. Er nehme insbesondere nicht die weitere Anspruchsvoraussetzung der haftungsbegründenden Kausalität voraus. Ob das Handeln des Schädigers die festgestellte Rechtsgutverletzung verursacht hat, sei in einem weiteren Schritt, ebenfalls unter dem Strengbeweis des § 286 ZPO, zu prüfen. Das von der Berufungskammer zitierte Urteil des Revisionssenats habe seinerzeit zu der zitierten Entscheidung geführt, weil das Berufungsgericht Feststellungen zu der Frage unterlassen habe, ob die Schmerzen durch den Unfall verursacht worden waren.

Von den Primärverletzungen seien Sekundärverletzungen abzugrenzen. Bei ihnen handle es sich um haftungsbegründende Rechtsgutverletzungen und darauf zurückzuführende Folgeschäden. Sie setzten schon begrifflich voraus, dass der Haftungsgrund feststehe. Die vom Geschädigten geltend gemachten Beeinträchtigungen könnten nur dann als Sekundärverletzung qualifiziert werden, wenn eine haftungsbegründende Primärverletzung unstreitig oder festgestellt sei.

Auch die Hilfsbegründung des Berufungsgerichts, dass die Schmerzen und die Übelkeit nicht in zurechenbarer Weise auf den Verkehrsunfall zurückzuführen seien, begegneten durchgreifenden Bedenken. Bei der gebotenen objektiven nachträglichen Prognose sei es weder völlig unwahrscheinlich noch völlig ungewöhnlich, dass das Unfallgeschehen bei der Klägerin zu einem psychoreaktiven Zustand führte, der sich dann in starken Schmerzen und Übelkeit manifestierte.

Rechtsfehlerhaft sei die Wertung des Berufungsgerichts, eine Haftung der Beklagten mit der Begründung zu verneinen, ein Schutz vor der Erinnerung an vergangene belastende Ereignisse falle nicht unter den Schutzzweck der deliktischen Sorgfaltspflichten. Das Berufungsgericht habe damit übersehen, dass der Schädiger grundsätzlich auch für psychische Auswirkungen seiner Verletzungshandlung haftungsrechtlich einzustehen habe. Eine Ausnahme gelte nur in den Fällen, in denen – nachgewiesen – eine sogenannte Begehrensneurose vorliege. Dafür sei hier aber weder etwas vorgetragen noch etwas festgestellt. Grenzen der Zurechenbarkeit könnten sich bei körperlicher Befindlichkeit in Extremfällen ausnahmsweise ergeben.

Das angefochtene Urteil halte also der revisionsrechtlichen Beurteilung nicht stand. Das Berufungsgericht müsse sich der Sache daher unter Berücksichtigung der Rechtssätze, die der Senat hier aufgezeichnet habe, nochmals annehmen.

Praxishinweis

Die Entscheidung ist für Verkehrsrechtler außerordentlich wichtig. Häufig werden Primär- und Sekundärverletzung im Streit vermengt und die Grenzen verwischt. Kein Schädiger hat indes das Recht, stets nur gesunde Verkehrsteilnehmer mit seinem Handeln zu treffen.

BGH, Urteil vom 26.07.2022 - VI ZR 58/21 (LG Bielefeld), BeckRS 2022, 23045