Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin
Aus beck-fachdienst Strafrecht 24/2020 vom 10.12.2020
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Sachverhalt
Gegen A fand u.a. wegen Steuerhinterziehung in rund 180 Fällen vor der Wirtschaftsstrafkammer am LG ein Strafverfahren statt. Als am Nachmittag des ersten Verhandlungstages die Anklage verlesen wurde, bemerkte der Verteidiger (V) des A, dass der Schöffe (S) für mindestens eine Minute lang die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet und eine erschlaffte Sitzhaltung eingenommen hatte. Während der Verlesung der Tatvorwürfe Nr. 176 bis 177 wandte er sich deshalb an den Vorsitzenden Richter, er möge sich versichern, ob S noch wach sei. Der Vorsitzende erwiderte spontan, dass dies der Fall sei; S selbst reagierte auf die Unterbrechung der Verlesung der Anklageschrift und den Wortwechsel zwischen V und dem Vorsitzenden nicht. Die Verlesung der Anklageschrift wurde, ohne sie – auch nicht teilweise – zu wiederholen, anschließend fortgesetzt und A letztlich u.a. wegen Steuerhinterziehung in 159 Fällen zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Gegen dieses Urteil wendete sich A mit seiner auf einer Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision.
Entscheidung
Die Revision des A hatte mit der Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 1 StPO Erfolg.
Zu Recht habe sie geltend gemacht, dass die Kammer nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei, weil S im ersten Termin zur Hauptverhandlung über einen nicht unerheblichen Zeitraum eingeschlafen gewesen sei, sodass er der Verlesung der Anklageschrift nicht vollständig habe folgen können. Dass S fest geschlafen habe, sei nach einer Gesamtwürdigung der Umstände, wie sie sich aus der Darstellung in der Revisionsbegründung ergeben, bewiesen. Dies insbesondere, da auch der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft bestätige, dass V während der Verlesung der Anklageschrift den Vorsitzenden um Prüfung gebeten habe, ob S eingeschlafen sein könne.
Auch die Angaben der beisitzenden Richter in ihren dienstlichen Stellungnahmen stünden der Darstellung von Verteidiger und Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nicht entgegen, da sich daraus keine zwingenden Anhaltspunkte dafür ergeben würden, dass S in der fraglichen Zeit entgegen dem nachvollziehbar auf das geschilderte Verhalten des Schöffen gestützten Eindruck von Verteidiger und Staatsanwalt wach gewesen sein könnte.
Danach liege, weil es sich bei der Verlesung der Anklage um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung handle und S dieser während einer erheblichen Zeitspanne schlafbedingt nicht gefolgt sei, der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO vor.
Praxishinweis
Kann ein Richter oder Schöffe aufgrund eines in seiner Person liegenden Defizits Teilen der Verhandlung nicht folgen, muss dies schon deshalb revisibel sein, weil Grundlage des Urteils nur solche Tatsachen sein können, die das Gericht aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpft hat (MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, § 338 Rn. 31).
Daher liegt ein Revisionsgrund nicht nur dann vor, wenn der Richter z.B. wegen einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage ist, seine Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen, sondern auch dann, wenn er während der Hauptverhandlung infolge eines körperlichen Mangels geistig nicht anwesend war. Dabei muss es sich um eine Ablenkung solchen Grades handeln, dass der Richter wesentlichen Vorgängen des Prozesses während einer ins Gewicht fallenden Zeitspanne nicht folgen kann (KK-StPO/Gericke, § 338 Rn. 51).
Dies ist bei einem Laienrichter, der während der Verlesung der Anklage fest einschläft, zu bejahen, zumal gem. 126 Abs. 3 RiStBV den Schöffen die Anklageschrift ohnehin nicht zugänglich gemacht bzw. in umfangreichen Verfahren eine Abschrift des Anklagesatzes erst nach dessen Verlesung überlassen werden darf.
Die h.M., der sich auch der 1. Strafsenat vorliegend angeschlossen hat, subsumiert diese Fälle, bei denen es nicht nur um die vorübergehende Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit durch Ermüdungserscheinungen geht, unter § 338 Nr. 1 StPO und nicht etwa, wie bei einem schlafenden Staatsanwalt (OLG Hamm NStZ-RR 2006, 315), unter § 338 Nr. 5 StPO (vgl. nur BGH BeckRS 2018, 15986).
Der 3. Strafsenat (BeckRS 2016, 20938) neigt hingegen zu einer Anwendung von § 338 Nr. 5 StPO).
In Praxi dürfte diese Streitfrage indes weniger relevant sein, weil die – in § 338 Nr. 5 StPO nicht enthaltenen – Präklusionsregelungen des § 338 Nr. 1 StPO keine Anwendung finden, sofern wie hier der Grund für die fehlerhafte Gerichtsbesetzung erst während der Hauptverhandlung entsteht (BGH BeckRS 2016, 20938). Für eine erfolgreiche Revision ist vielmehr entscheidend, die Rüge den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend darzulegen. Dies gilt umso mehr, als dass die Verteidigung sich mitunter darauf einzustellen hat, dass in der dienstlichen Äußerung die Verhandlungsunfähigkeit nicht offen zugeben wird (MAH Strafverteidigung/Dahs/Müssig, § 12 Rn. 102). Daher ist es von enormer Bedeutung, dem Revisionsgericht eine stichhaltige Darstellung der rügebegründenden Tatsachen anzubieten. Detaillierte Angaben, welcher Verfahrensbeteiligte während welcher im Einzelnen darzustellender Vorgänge in der Hauptverhandlung geistig abwesend war, sind hierfür, ebenso wie Ausführungen dazu, ob der entsprechende Verhandlungsteil im Verlauf der weiteren Verhandlung wiederholt worden ist, unerlässlich (MüKo-StPO/Arnoldi, § 226 Rn. 22). Gelingt die Feststellung, dass der betroffene Schöffe wesentlichen Vorgängen der Verhandlung während einer ins Gewicht fallenden Zeitspanne wegen Übermüdung nicht folgen konnte, dennoch nicht, geht dies mangels Anwendbarkeit des Zweifelssatzes zu Lasten der Revision (BGH BeckRS 2018, 15986).
BGH, Beschluss vom 14.10.2020 - 1 StR 616/19 (LG Kassel), BeckRS 2020, 31984