Urteilsanalyse
Scheinselbständigkeit in Rechtsanwaltskanzlei
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Für die Abgrenzung von sog. scheinselbständigen Rechtsanwälten und freien Mitarbeitern einer Rechtsanwaltskanzlei ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung maßgebend. Soweit die Kriterien der Weisungsgebundenheit und Eingliederung wegen der Eigenart der Anwaltstätigkeit im Einzelfall an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren, ist nach Ansicht des BGH vornehmlich auf das eigene Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung abzustellen.

26. Jul 2023

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 14/2023 vom 21.07.2023

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Sachverhalt

Der seit 1982 als Rechtsanwalt tätige Angeklagte war von 2013 bis 2017 alleiniger Inhaber einer Kanzlei. Über ein „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ beauftragte er 12 Rechtsanwälte als selbständige freie Mitarbeiter. In dem Freie-Mitarbeitervertrag hatte er mit ihnen eine zeitlich nicht befristete freie Mitarbeit vereinbart. Eine Zusatzvereinbarung sah vor, dass die Berufsausübung mit eigenem Personal außerhalb der Kanzlei der Zustimmung des Angeklagten bedurfte. Werbemaßnahmen waren mit ihm abzustimmen. Die freien Mitarbeiter waren als Rechtsanwälte nur für den Angeklagten tätig, der ihnen auch die zu bearbeitenden Mandate zuwies. Die Tätigkeit wurde, wie vom Angeklagten erwartet und eingefordert, in den Kanzleizeiten nahezu ausschließlich in den Kanzleiräumlichkeiten ausgeübt. Der Angeklagte stellte das geschulte kanzleiinterne Personal zur Verfügung sowie die gesamte sonstige Infrastruktur. Das vereinbarte Jahreshonorar riefen die freien Mitarbeiter regelmäßig einmal pro Monat anteilig ab; es wurde unabhängig von den durch die Mitarbeiter jeweils erzielten Umsätze errechnet und gezahlt.

Nach Auffassung des Landgerichtes enthielt der Angeklagte vier Einzugsstellen im Zeitraum von Februar 2013 bis Dezember 2017 in 189 Fällen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung i.H.v. 118.850,58 EUR vor. Das Landgericht ging von einer abhängigen Beschäftigung aus und ermittelte die Beiträge aus den tatsächlich gezahlten Beträgen, die gem. § 14 Abs. 2 SGB IV im Wege des „Abtastverfahrens“ auf eine monatliche Bruttovergütung hochgerechnet wurden. Gegen das Urteil des LG richteten sich die Revisionen des Angeklagten, was den Schuldspruch anbelangt und der Staatsanwaltschaft was die Rechtsfolgen anbelangte.

Entscheidung

Der BGH weist die Revision des Angeklagten zurück. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichtes seien die freien Mitarbeiter in dem Tatzeitraum Beschäftigte i.S.d. § 7 SGB IV gewesen. Aus dem Berufsbild des Rechtsanwaltes und den Regelungen der BRAO ergibt sich für diese Abgrenzung nichts wesentlich anderes. Zwar kann die Eigenart der Anwaltstätigkeit als eine Dienstleistung höherer Art mit einer sachlichen Weisungsfreiheit einerseits und einem weitgehend durch Sachzwänge bestimmten zeitlichen und örtlichen Arbeitsbedarf andererseits es mit sich bringen, dass sich das Abgrenzungsmerkmal der äußeren Weisungsgebundenheit hinsichtlich Zeit, Ort und Dauer des Arbeitseinsatzes reduziert. Das erschwert eine sichere Unterscheidung zwischen abhängiger und selbständiger Ausübung. Sofern allerdings im Einzelfall die Weisungsgebundenheit eines Rechtsanwalts deutlich über das sich aus Sachzwängen ergebende Maß hinausgeht, kann dies ein deutliches Zeichen sein, dass eine solche Tätigkeit als eine abhängige Beschäftigung zu qualifizieren ist. Entsprechendes gilt für die Eingliederung in die Kanzlei, falls diese Tätigkeit über die durch Sachgegebenheiten bedingte hinausgeht oder losgelöst von diesen festzustellen sein sollte. Maßgeblich ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung.

Praxishinweis

1. Dass solche Art Verträge über die „freie Mitarbeit“ keine Rechtssicherheit schaffen, entspricht einer nun schon Jahre langen Rechtspraxis und Überzeugung. Frage ist allerdings, ob der Kanzleiinhaber „seine Mandate“ überhaupt Anwältinnen und Anwälten in Form der freien Mitarbeit zur Bearbeitung überlassen kann. Das könnte nach dem Urteil des BGH wohl nur dann gelingen, wenn die „freie Mitarbeit“ tatsächlich in eigenen Praxisräumen verrichtet wird, das Mandat des Kollegen nun also von einem anderen Anwalt/Anwältin bearbeitet wird. Es reicht nicht der Hinweis auf die „Vertretung“, da – so jedenfalls für die Ausübung des Arztberufes – auch der Vertreter seine Tätigkeit als Beschäftigter des Vertretenen ausübt (BSG, BeckRS 2021, 39900).

2. Wer als niedergelassener Rechtsanwalt/Rechtsanwältin meint, Kolleginnen oder Kollegen Einzelaufträge übertragen zu müssen, muss sich absichern, und zwar durch eine Statusfeststellung gem. § 7a SGB IV (vgl. Klopstock/Veiglhuber, Praxishilfen B, Rn. 21 in: Kainz, Praxiskommentar Beschäftigung selbständige Tätigkeit, 2022).

Durchaus bemerkenswert ist der Hinweis in Rn. 18 des Urteils des BGH auf das fehlende Unternehmerrisiko. Der Rechtsanwalt zahlte für die Tätigkeit den freien „Mitarbeitern“ faktisch ein festes Jahresgehalt. Richtet sich die Vergütung nach dem Streitwert des mitübernommenen Mandates, stellt sich die Frage, ob man daraus ein Unternehmerrisiko ableiten kann. Anders könnte es sich verhalten, wenn der freie Mitarbeiter vorwiegend in eigener Praxis tätig ist und hin und wieder einzelne Mandate mitbearbeitet.

3. Das Urteil des BGH verlangt vom Strafgericht die exakte Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge. Dies ist nicht nur für den Schuldumfang entscheidend, sondern auch für die Einziehungsentscheidung. In der Praxis wird hier zumeist abgestellt auf Berechnungen seitens der Betriebsprüfung gem. § 28p SGB IV. Auch diese Berechnungen sind aber durchaus einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

BGH, Urteil vom 08.03.2023 - 1 StR 188/22, BeckRS 2023, 10741