Urteilsanalyse
Schätzung der Gesamtlaufleistung eines Fahrzeuges
Urteilsanalyse
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Eine Schätzung nach § 287 ZPO ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs unzulässig, wenn eine Grundlage für eine Entscheidung mangels greifbarer Anhaltspunkte nicht zu gewinnen ist und das richterliche Ermessen vollends in der Luft hängen würden.

16. Nov 2021

Anmerkung von
Richter am KG Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 23/2021 vom 12.11.2021

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Sachverhalt

Der Kläger, der einen Škoda Yeti 2,0 TDI zum Preis von 32.500,01 EUR als Neufahrzeug erworben hatte, meint in einer Schadensersatzklage, das OLG habe die Gesamtlaufleistung des Škoda mit 250.000 km zu niedrig geschätzt. Richtig seien 400.000 km. Das Berufungsgericht habe seiner Schätzung nach § 287 I ZPO unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt und seinen entscheidungserheblichen Vortrag und seine Beweisangebote unberücksichtigt gelassen. Das Berufungsgericht, das keine eigene Sachkunde habe, sei aber gehalten gewesen, zum Beweis einer voraussichtlichen Gesamtlaufleistung von 400.000 km das von ihm angebotene Sachverständigengutachten einzuholen.

Entscheidung: Die OLG-Schätzung ist nicht zu beanstanden!

Für die zu erwartende Gesamtlaufleistung sei nicht die mögliche Laufleistung des Motors an sich, sondern die Lebensdauer des (gesamten) Fahrzeuges maßgebend. Zudem komme es auf die unter gewöhnlichen Umständen zu erzielende (durchschnittliche) Gesamtfahrleistung des Fahrzeuges an und nicht darauf, welche Gesamtlaufleistung das Fahrzeug unter günstigen Bedingungen im äußersten Fall erreichen könne oder in bestimmten Einzelfällen erreicht habe.

Einer analog § 287 I ZPO vorzunehmenden Schätzung der in die Bemessung der gezogenen Gebrauchsvorteile einfließenden durchschnittlichen Gesamtlaufleistung des Fahrzeuges hafte angesichts dieser Prämissen eine typisierte und pauschalisierende Betrachtung an, die je nach Fahrverhalten von den im konkreten Fall grds. zu erwartenden Werten abweichen könne. Bei einer Schätzung nach § 287 I ZPO werde idR in Kauf genommen, dass das Ergebnis unter Umständen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme (Hinweis auf BGH NJW 2013, 525 Rn. 23). Nur wenn mangels greifbarer Anhaltspunkte eine Grundlage für eine Entscheidung nicht zu gewinnen sei und das richterliche Ermessen vollends in der Luft hängen würde, sei eine Schätzung ausgeschlossen.

So würden die Dinge aber nicht liegen. Das Berufungsgericht habe sich bei seiner Schätzung an den in der Gerichtspraxis anzutreffenden Schätzwerten bei Mittelklassewagen neueren Datums orientiert. Soweit die Revision zu den Substanziierungsanforderungen an den unter Sachverständigenbeweis gestellten Verkehrswert eines Grundstücks verweise (Hinweis auf BGH NJW 2015, 1510 Rn. 21), lasse sich daraus nichts für die Frage ableiten, ob ein Sachverständiger aussagekräftigere Anknüpfungstatsachen für die notwendigerweise typisierende und pauschalisierende Schätzung der Gesamtlaufleistung des erworbenen Fahrzeuges liefern könne. Die vom Berufungsgericht gebilligte LG-Schätzung, wonach die zu erwartende Gesamtlaufleistung mit 250.000 km zu bemessen sei, halte sich im Rahmen des tatrichterlichen Schätzungsermessens und sei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Praxishinweis

Auch die unter Sachverständigenbeweis gestellte Behauptung, das erworbene Fahrzeug habe eine voraussichtliche Gesamtlaufleistung von 400.000 Kilometer, war nach unbeachtlich. Denn der Kläger hatte nach BGH-Ansicht keine Gesichtspunkte vorgetragen, die dafürsprachen, dass ein Sachverständigengutachten eine tragfähigere Schätzgrundlage als die seit vielen Jahren veröffentlichten Schätzwerte der Tatgerichte bezüglich verschiedener Fahrzeugtypen böte. Die Übersichten über die gefestigte Schätzungspraxis der Gerichte oder einschlägige „Schwackelisten“ bzw. sonstige aussagekräftige statistische Auswertungen böten angesichts der eingeschränkten empirischen Ermittlungsmöglichkeiten und im Interesse einer einheitlichen Handhabung regelmäßig eine hinreichende Schätzungsgrundlage für die zu prognostizierende Gesamtlaufleistung.

BGH, Urteil vom 29.09.2021 - VIII ZR 111/20, BeckRS 2021, 31895