Interview
Sanktionen gegen den Krieg
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© Micha Deutsch

Auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat der Westen in seltener Geschlossenheit mit umfassenden Sanktionen reagiert. Damit stellt sich nicht nur die Frage nach Rechtsgrundlagen und Grenzen derartiger Maßnahmen, sondern auch nach den rechtlichen Möglichkeiten deutscher Unternehmen, sich dagegen zu wehren. Diese und weitere Aspekte hat Prof. Dr. Christian Tietje von der Universität Halle-Wittenberg mit uns beleuchtet.

17. Mrz 2022

NJW: Lassen Sie uns zunächst über die Rechtsgrundlagen sprechen, auf denen die EU-Sanktionen beruhen.

Tietje: Die EU ist durch Art. 215 AEUV ermächtigt, ­"restriktive Maßnahmen" zu erlassen. Konkret geht es hierbei um Maßnahmen zur Einstellung von Wirtschafts- und Finanzbeziehungen mit dritten Staaten oder entsprechende Sanktionen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen bzw. sonstigen Personenmehrheiten. Nach einem einstimmigen Beschluss der EU-Mitgliedstaaten zur politischen Begründung der Sanktionen nach der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Union werden die Wirtschafts- und Finanzsanktionen durch EU-Verordnung mit qualifizierter Mehrheit durch den EU-Ministerrat erlassen. Seit Beginn der Krim-Krise 2014 gibt es zwei Grundverordnungen zu sektoralen Maßnahmen (VO 833/2014) und zu personenbezogenen Sanktionen (VO 269/2014), die immer wieder aktualisiert werden. Ergänzende Verordnungen zu Sonderbereichen sind in jüngerer Zeit hinzugekommen. Sie alle sind unmittelbar anwendbares Recht in Deutschland, haben also, ohne dass ein weiterer Umsetzungsakt notwendig ist, unmittelbare Bindungswirkung für alle natürlichen und juristischen Personen des Privatrechts wie auch für alle öffentlichen Stellen. Der Vollzug der Sanktionen obliegt indes den mitgliedstaatlichen Behörden.

NJW: Unterliegen auch Sanktionen gegen einen Aggressor wie Russland rechtlichen Grenzen?

Tietje: Selbst im schrecklichen Fall eines internationalen bewaffneten Konflikts bleibt es bei der Rechtsbindung aller Hoheitsgewalt, auch gegenüber einem Aggressor. Das gilt im Völkerrecht im Hinblick auf die grundsätzliche Weitergeltung völkerrechtlicher Verträge, im EU-Recht und im innerstaatlichen Recht. Im internationalen Wirtschaftsrecht sind unter anderem die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) und des internationalen Investitionsschutzrechts zu beachten, die indes im Konfliktfall Bereichsausnahmen zur Sicherung und Wiederherstellung des Friedens vor­sehen. Im EU-Recht sind Sanktionen schon seit einigen Jahren immer wieder Gegenstand von Verfahren vor dem EuG bzw. dem EuGH. Der EuGH gesteht hier ­zunächst den Legislativorganen der EU einen weiten Beurteilungsspielraum zu und überprüft letztlich nur, ob eine Sanktionsanordnung dem allgemeinen Be­gründungserfordernis entspricht (Art. 296 II AEUV) und verhältnismäßig ist. Die Verhältnismäßigkeits­prüfung beschränkt der EuGH allerdings regelmäßig auf die Frage, ob die Maßnahme nicht offensichtlich ungeeignet ist und es eine vernünftige Beziehung zwischen Maßnahme und Ziel gibt (s. ua C-732/18 P und C-729/18 P). Soweit Individualrechte wie die Wirtschaftsfreiheit und das Eigentumsrecht aus der EU-Grundrechtecharta zur Debatte stehen, verschärft der EuGH die Verhältnismäßigkeitsprüfung etwas, belässt es im Ergebnis aber doch bei einem weiten Beurteilungsspielraum der EU-Organe.

NJW: Halten Sie die bislang verhängten Maßnahmen für verhältnismäßig?

Tietje: Im Lichte des aufgezeigten Prüfungsmaßstabs wird man an der Verhältnismäßigkeit kaum zweifeln können. Sie reihen sich in eine Kette von Sanktionen seit Beginn der Krim-Krise im Jahr 2014 ein, die von der EU zunehmend intensiviert wurden. Nunmehr geht es um alle verbleibenden Möglichkeiten, mit nichtmilitärischen Mitteln die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine zu beenden. Angesichts der verheerenden Folgen für Europa und darüber hinaus, die ein militärisches Eingreifen der NATO hätte, sowie der strikten Bindung der EU an die Grundsätze des Völkerrechts und der internationalen Friedenssicherung (Art. 21 EUV), gibt es keine Alternative zu den ergriffenen Maßnahmen. Insbesondere sind mildere Mittel im Sinne einer vernünftigen Mittel-Ziel-Relation nicht ersichtlich.

NJW: Die Sanktionen betreffen auch deutsche Unternehmen. Können sie sich dagegen wehren?

Tietje: Natürlichen und juristischen Personen steht die Möglichkeit offen, nach Art. 263 IV AEUV innerhalb von zwei Monaten Nichtigkeitsklage vor dem EuG zu erheben, sofern eine individuelle Betroffenheit durch eine Sanktionsverordnung vorliegt. So erhob etwa Russia Today Frankreich jüngst Klage vor dem EuG (T-125/22) gegen Sanktionen vom 1.3.2022 (VO 2022/350), mit der bestehende Rundfunklizenzen in der EU ausgesetzt wurden. Überdies kann es mittelbaren Rechtsschutz gegen eine konkrete Einzelentscheidung mitgliedstaat­licher Behörden geben, mit der eine Sanktion durchgesetzt wird. Ein im Einzelfall durch die zuständige Zollbehörde ausgesprochenes Ausfuhrverbot könnte beispielsweise vor dem Finanzgericht angegriffen werden. Dieses könnte oder müsste gegebenenfalls die Sache dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens vorlegen (Art. 267 AEUV).

NJW: Sind Geschäftsbeziehungen mit Russland aktuell überhaupt noch erlaubt?

Tietje: Es bleibt auch in der gegenwärtigen Situation zunächst weiterhin bei der Außenwirtschaftsfreiheit, wie sie durch EU-Recht und deutsches Verfassungsrecht (Art. 12 I GG) gewährleistet ist. Wenn also für einzelne Güter oder Dienstleistungen keine Sanktionsanordnung vorliegt, sind Geschäftsbeziehungen mit Russland weiter erlaubt. Das muss und sollte im Einzelfall aber genau geprüft werden. Aus der Außenwirtschaftsfreiheit folgt im Übrigen auch, dass selbst in der dramatischen gegenwärtigen Situation der Staat bzw. die EU immer begründen muss, warum einzelne Sanktionen gerechtfertigt sind.

NJW: Was droht deutschen Unternehmen, die gegen die aktuellen Sanktionsregime verstoßen?

Tietje: Die Durchsetzung der Sanktionsverordnungen der EU erfolgt durch innerstaatliches Recht. Das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) sieht bei Sanktionsverstößen bei bestimmten Dual-Use-Gütern im Einzelfall Freiheitsstrafen von nicht unter einem Jahr (§ 17 I Nr. 2 AWG), im Regelfall Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor (§ 18 I Nr. 1 AWG), wobei Strafverschärfungen möglich sind. Soweit keine Strafbarkeit gegeben ist, bleibt es bei zum Teil erheblichen Bußgeldbewehrungen nach Ordnungswidrigkeitenrecht (§ 19 AWG; § 82 AußenwirtschaftsVO). Rechtsschutz in diesem Bereich erfolgt vor dem jeweils zuständigen deutschen Fachgericht, das dann gegebenenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH einleiten kann (Art. 267 AEUV).

NJW: Unterstellen wir mal, der EuGH entscheidet, eine oder mehrere Maßnahmen aus dem Sanktionspaket waren rechtswidrig. Stünden einem deutschen Unternehmen dann Schadensersatzansprüche zu? Und wer wäre dann der Anspruchsgegner?

Tietje: Bei Rechtswidrigkeit von EU-Rechtshandlungen besteht die Möglichkeit eines Amtshaftungsanspruchs gegen die EU selbst (Art. 340 II iVm 268 AEUV). Eine darüber hinausgehende Haftung der Bundesrepublik Deutschland für Schäden, die unmittelbar aus der Durchführung von Unionsrecht - hier den einschlägigen EU-Sanktionsverordnungen - entstehen, ist ausgeschlossen, wie der BGH bereits im Zusammenhang mit dem Irak-Embargo entschieden hat (NJW 1994, 858).

NJW: Könnten Unternehmen aus Belarus oder Russland Schadensersatzansprüche geltend machen?

Tietje: Neben der genannten (eher theoretischen) Mög­lichkeit nach Art. 340 II AEUV kann hier - da es um ­Unternehmen aus Drittstaaten geht - eventuell ein Schadensersatzanspruch gegen die EU nach internationalem Investitionsschutzrecht bestehen. Ein solcher könnte sich aus dem Energiecharta-Vertrag ergeben. Allerdings gilt dieser nur noch für Belarus, das den Vertrag weiterhin vorläufig anwendet. Russland hat die vorläufige Anwendung des Vertrags im Jahre 2009 beendet und im Frühjahr 2018 offiziell seine Unterschrift unter den Vertrag ganz zurückgezogen. Im Übrigen enthält er eine Vorschrift, die Maßnahmen zur internationalen Friedenssicherung vom Schutzbereich der Investitionsgarantien des Vertrags ausnimmt.

Prof. Dr. Christian Tietje, LL.M., studierte Jura, Poli­tische Wissenschaften und Volkskunde in Kiel und ­Paris. Nach Promotion und Zweitem Staatsexamen wurde er 2000 habilitiert. Seit 1.10.2001 lehrt er ­Öffentliches Recht, Europarecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, ist Geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Wirtschaftsrecht, Leiter der Forschungsstelle für Transnationales Wirtschaftsrecht und seit 1.9.2018 Rektor der Universität.

Interview: Dr. Monika Spiekermann.