Interview
Rundum abgesichert im Versorgungswerk?
Interview
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Als Angehörige eines freien kammerfähigen Berufs besteht für Anwälte eine Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk. Diese war lange an eine Altersgrenze gekoppelt, die aber ein Versorgungswerk nach dem anderen gekippt hat – zuletzt das in Baden-Württemberg. Die NJW hat dies zum Anlass genommen, um mit dem Juristen und Finanzökonom Jörn Scheiwe die Vor- und Nachteile der berufsständischen Altersvorsorge zu beleuchten.

22. Nov 2021

NJW: Vergangenen Monat hat auch das Versorgungswerk Baden-Württemberg die Altersgrenze für die Pflichtmitgliedschaft kassiert. Was bedeutet das?

Scheiwe: Dies bedeutet, dass sich rückwirkend zum 5.5. 2018 auch angestellte Anwälte – sowohl Associates als auch Syndikusanwälte – , die älter als 45 Jahre sind, von der gesetzlichen Rentenversicherung (DRV Bund) zu Gunsten einer Pflichtmitgliedschaft im baden- württembergischen Versorgungswerk befreien lassen können. Dies ist deswegen so wichtig, weil das Versorgungswerk gegenüber der DRV Bund immer noch als das finanzstärkere Rentensystem gilt. Bis zum Wegfall dieser Altersgrenze konnten Rechtsanwälte, die über 45 Jahre alt waren, nicht in das Versorgungswerk Baden-Württemberg eintreten, sondern mussten in die DRV Bund einzahlen. Dies hat dazu geführt, dass das Bundesland für diese Rechtsanwälte unattraktiv war, was viele Anwälte von einem Berufswechsel nach Baden-Württemberg abhielt.

NJW: Wird damit nicht insbesondere jungen Anwälten, die seit Beginn ihrer Karriere in das anwaltliche Versorgungswerk einzahlen, eine noch größere finanzielle Belastung aufgebürdet, als sie ohnehin schon aufgrund des demoskopischen Wandels zu tragen haben?

Scheiwe: Ja, absolut, denn das Problem der Überalterung der Versorgungswerke wird durch die zusätzliche Berücksichtigung älterer Kollegen, die in jungen Jahren keine Beiträge geleistet hatten, noch verschärft.

NJW: Warum schütten dann Versorgungswerke bei gleich hohen Beiträgen immer noch höhere Renten aus als die gesetzliche Rentenversicherung? Und weshalb können diese im Gegensatz zur gesetzlichen Rente nicht garantiert werden?

Scheiwe: Bis zum 1.1. 2015 galt das sogenannte Anwartschaftsdeckungsverfahren, also eine kapitalgedeckte Altersvorsorge, bei der eingezahlte Beiträge verzinst und später verrentet wurden. Damit hatte ein Mitglied eine konkrete Anwartschaft, die in einem Euro-Betrag ausgewiesen wurde, erworben. Die Höhe der Anwartschaft stand daher grundsätzlich fest. Im Gegensatz dazu ist die DRV Bund ein umlagefinanziertes System ohne individuellen Sparprozess. Die aktuellen Gesundheits- und Rentenausgaben werden vielmehr durch die aktuellen Beitragszahler erwirtschaftet. Immer mehr Rentner müssen demographiebedingt durch immer weniger junge Beitragszahler finanziert werden. Dies hat dazu geführt, dass die Rente vom Versorgungwerk erheblich höher ausfällt als die der DRV Bund. Allerdings wurde das Finanzierungssystem der Versorgungswerke ab 1.1. 2015 um Elemente des offenen Deckungsplanverfahrens erweitert. Dabei erwirbt das Mitglied keine Euro Anwartschaft mehr, sondern sogenannte Rentenpunkte, deren Wert durch den Rentenbemessungsfaktor bestimmt wird. Dieser wird vom Verwaltungsrat des jeweiligen Versorgungswerks jährlich in Abhängigkeit von dessen finanzieller Lage bestimmt. Kurz gesagt: Es erfolgt eine „Auszahlung nach Kassenlage“. Und insoweit ist die Rente des Versorgungswerks nicht garantiert. Im Gegensatz dazu wird die Funktionsfähigkeit der DRV Bund durch Bundeszuschüsse garantiert – allerdings nicht der Höhe nach.

NJW: Wie sicher ist vor dem Hintergrund die berufsständische Altersvorsorge?

Scheiwe: Grundsätzlich ist sie sicher, das Auszahlungsniveau allerdings nicht. Andere Branchen zeigen dies leider: So hat das Versorgungswerk der Zahnärzte in Niedersachsen 2003 die Renten von einem Jahr auf das andere drastisch um ca. 50 % gekürzt.

NJW: Gibt es bei den Versorgungswerken hinsichtlich der Finanzierung der Beiträge zur Krankenversicherung im Rentenbezugsalter eine weitere Besonderheit?

Scheiwe: Ja, oft regiert auch hierzu ein Missverständnis: Das Versorgungswerk zahlt im Gegensatz zur DRV Bund ab Rentenbeginn keinen 50%igen Zuschuss zur Krankenversicherung! Selbstständig tätigen Anwälten wird dies allseits bekannt sein, denn sie zahlen bereits
während ihres Erwerbslebens die Krankenversicherungsbeiträge – unabhängig davon ob gesetzlich oder privat krankenversichert – komplett. Was häufig übersehen     wird, ist, dass dies auch für angestellte Anwälte gilt. Das kann beim Renteneintritt zu einer teuren Überraschung werden, da der Gesundheitssektor zu dem Lebensbereich gehört, der in den letzten 30 Jahren und insbesondere in Zukunft eine hohe Kostenquote (mindestens 5-7 %) aufweist. Daher ist und wird die Finanzierbarkeit der Krankenversicherungsbeiträge im Rentenbezugsalter besonders kostenintensiv sein. Hier erweist sich eine private Vorsorge als sehr wichtig.

NJW: Viele Kollegen fühlen sich im Versorgungswerk rundum abgesichert, weil die Mitgliedschaft auch die Versicherung gegen Berufsunfähigkeit mitabdeckt. Wie sehen Sie das?

Scheiwe: Hier herrschen gefährliche Missverständnisse: Berufsunfähigkeit liegt satzungsgemäß erst bei kompletter Einstellung der beruflichen Tätigkeit vor und muss durch Rückgabe der Anwaltszulassung nachgewiesen werden! Dies bedeutet, dass eine Versicherungsleistung erst bei 100%iger Berufsunfähigkeit erfolgt. In Anbetracht des Umstands, dass 98 % aller Fälle unterhalb dieses Werts liegen, besteht faktisch keine Absicherung gegen dieses Risiko über das Versorgungswerk. Private Versicherungen leisten bereits ab einer 50%igen Berufsunfähigkeit. Das Risiko, mindestens einmal im Leben berufsunfähig zu werden, liegt bei Anwälten bei ca. 23 %. Da es damit existenziell ist, besteht für Mitglieder von Versorgungswerken dringender Handlungsbedarf. Die Versicherung gegen Berufsunfähigkeit gehört neben einer Krankenversicherung und einer privaten Haftpflichtversicherung zur einzig wirklich notwendigen privaten Versicherung.

NJW: Ist es dann womöglich für Anwälte attraktiver, nur noch die Mindestbeiträge an die Versorgungswerke zu zahlen und hauptsächlich anderweitig vorzusorgen?

Scheiwe: Ja, exakt! Für die ergänzende, private Renten-, Gesundheits- und Berufsunfähigkeitsvorsorge ist 2015 die Basisrente eingeführt worden, an die man eine private Versicherung gegen Berufsunfähigkeit koppeln kann. Dies hat drei wesentliche Vorteile gegenüber der klassischen Lebensversicherung und anderen Geldanlagen: Zum einen sind die Beiträge zur Basisrente und zur Absicherung gegen Berufsunfähigkeit in hohem Maße steuerlich absetzbar. Zum anderen kann man bei der Basisrente individuell, je nach persönlicher Risikoneigung und Anlagehorizont entscheiden, wie investiert werden soll. Schließlich deckt man mit einer Basisrente als Leibrentenversicherung das Langlebigkeitsrisiko ab, also das Risiko, das gerade bei Renten- und Krankenversicherungen besteht. Versorgungswerke hingegen haben bei ihren Investments keine großen Freiheiten: So wird der größte Teil der Beiträge unter anderem in festverzinsliche Wertpapiere investiert, was angesichts der Zinsniedrigphase grundsätzlich nicht zielführend ist.

NJW: Wir wollen ja nicht den Teufel an die Wand malen, aber ist es denkbar, dass sich die bei einem Versorgungswerk erworbenen Anwartschaften auf Null reduzieren?

Scheiwe: Ja, dies ist denkbar. So ging bereits das Versorgungswerk für Schornsteinfeger im Jahr 2012 pleite. Allerdings übernahm der Bund seinerzeit ausnahmsweise die Altlasten. Was bei künftigen Pleiten von Versorgungswerken geschieht, ist aber völlig unklar.

NJW: Ist vor dem Hintergrund ein gesetzlicher Sicherungsfonds für Versorgungswerke sinnvoll?

Scheiwe: Der Sinn von Einlagensicherungssystemen besteht maßgeblich darin, das Vertrauen in das Banken- und Versicherungssystem zu erhalten und im Krisenfall einen massiven Abzug von Spareinlagen zu vermeiden. Da Mitglieder eines Versorgungswerks keine Möglichkeit haben, Gelder abzuziehen, existiert jedenfalls dieser Zweck hier nicht.

Jörn Scheiwe studierte Jura in Trier; das Erste und Zweite Staatsexamen legte er 1995 bzw. 1997 ab. Gleich zu Beginn seiner beruflichen Karriere im Bereich Finanzdienstleistungen spezialisierte er sich auf die Beratung von verkammerten Berufsträgern wie insbesondere Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Er ist European Financial Advisor, EFA® und zertifizierter privater Finanzplaner gemäß DIN ISO 22222:2015 und seit 2014 Certified Financial Planner®/Finanzökonom.

Interview: Monika Spiekermann.