Urteilsanalyse
Rückforderung einer überzahlten Rente – hier Inanspruchnahme von Erben
Urteilsanalyse
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Ein Sozialleistungsträger kann nach dem BSG den Erben eines Versicherten wegen einer gegen diesen mit Bescheid geltend gemachten Erstattungsforderung durch einen weiteren Verwaltungsakt in Anspruch nehmen.

24. Aug 2023

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 16/2023 vom 18.08.2023

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Sachverhalt

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte (DRV) die Klägerin als Miterbin für eine Rückforderung in Anspruch nehmen darf, die gegenüber der verstorbenen Ehefrau ihres nachverstorbenen Vaters (im Folgenden: Versicherte) festgesetzt wurde.

Die 1941 geborene Versicherte bezog seit 2001 eine Altersrente für Frauen und erzielte Einkommen oberhalb der Grenze eines anrechnungsfreien Hinzuverdienstes. Gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid über 5.230 EUR erhob sie Widerspruch und sodann Klage. Nach dem Tod führte der Ehemann das Verfahren fort. Das SG wies die Klage ab, ebenso das LSG auf die Berufung. Im Anschluss an dieses Verfahren machte die Beklagte gegenüber der Klägerin und ihrer Halbschwester jeweils die Hälfte der Gesamtforderung geltend. Die Klägerin lehnte eine Zahlung ab. Sie erhob Einreden wegen Dürftigkeit und Unzulänglichkeit des Nachlasses, Entreicherung sowie Verjährung und machte die Haftungsbeschränkung gem. § 780 ZPO geltend. Die Beklagte verpflichtete die Klägerin mit angefochtenem Bescheid zur Zahlung von 2.615,22 EUR.

Gegen diesen Bescheid und den ablehnenden Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin Klage zum SG. SG und LSG gaben der Klage statt. Der Bescheid sei fehlerhaft, weil die Beklagte bei der Inanspruchnahme der Gesamtschuldner kein Ermessen ausgeübt habe. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten, die einen Verstoß gegen § 50 SGB X i.V.m. § 421 BGB rügt. Ein Auswahlermessen bestehe nicht. Dem stehe nicht zuletzt die Verwaltungspraktikabilität entgegen.

Entscheidung

Das BSG weist die Revision als unbegründet zurück. Der angefochtene Bescheid war rechtswidrig. Zwar durfte die Beklagte die Klägerin als Erbin nach ihrem Vater, der seinerseits Erbe geworden war, grundsätzlich auf Zahlung der gegen die verstorbene Versicherte festgesetzten Rückforderung durch Bescheid in Anspruch nehmen. Es fehlt jedoch an der erforderlichen Ermessensausübung, so dass der angefochtene Bescheid aufzuheben war. Die vom LSG rechtskräftig bestätigte Erstattungsforderung fiel als Verbindlichkeit in den Nachlass der Versicherten. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid erledigte sich durch den Tod der Versicherten auch nicht im Hinblick auf das Zahlungsgebot etwa i.S.v. § 39 Abs. 2 SGB X „auf andere Weise“. Vielmehr gelangte die darin enthaltene Zahlungsverpflichtung mit dem Tod der Versicherten in das Vermögen ihrer Erben, mithin zunächst des Ehemannes und später der gemeinsamen Töchter.

Die Beklagte war gegenüber der Klägerin grundsätzlich zum Handeln durch Verwaltungsakt befugt. Es bedarf dazu nicht stets einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage. Es reicht vielmehr, wenn sich eine solche Berechtigung aus der Systematik des Gesetzes und der Eigenart des zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsverhältnisses ergibt. Dies war hier der Fall. Die Beklagte war befugt, die konkrete Forderung gegen die Klägerin durch Bescheid festzusetzen. Bei einem Vorgehen nach der ZPO kann der Rentenversicherungsträger allein auf der Grundlage des gegen den Erblasser ergangenen bestandskräftigen Erstattungsbescheides als Vollstreckungstitel die Vollstreckung nach den §§ 704 ff. ZPO analog betreiben. Da die Zwangsvollstreckung aber die namentliche Bezeichnung des Schuldners im Titel oder der diesem beigefügten Vollstreckungsklausel erfordert, bedarf es einer Vollstreckungsklausel mit Benennung aller Erben, gegen die vollstreckt werden soll.

Soll die Vollstreckung, wie im Regelfall, nach dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VwVG) erfolgen, ist ein gesonderter Bescheid, in dem die Leistungspflicht des Erben als Vollstreckungsschuldner konkretisiert wird, erforderlich. Voraussetzung für eine Vollstreckung ist nach § 3 Abs. 2a VwVG, dass zuvor ein Leistungsbescheid ergangen ist. Der hier zu beurteilende Bescheid ist jedoch wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig und aufzuheben. Da die Klägerin als Gesamtschuldnerin mit der weiteren Erbin für die Nachlassverbindlichkeit haftet, liegt in ihrer Inanspruchnahme auch eine Auswahlentscheidung. Die Beklagte hat ihr Ermessen, dass und in welcher Höhe sie die Klägerin in Anspruch nimmt, nicht betätigt. Auch eine Ermessensreduzierung auf null lag nicht vor. Die Beklagte hat einen sehr weiten Ermessensspielraum, vorliegend aber Anlass für eine Ermessensausübung gehabt, da die Klägerin nach der verstorbenen Versicherten, die ihrerseits den Erstattungsanspruch ausgelöst hat, nicht beerbt wurde. Erben dieser Versicherten waren der Vater der Klägerin und ihre Halbschwester mit einer Quote von jeweils 1/2. Vor diesem Hintergrund hätte, wie die Klägerin geltend gemacht hat, eine Inanspruchnahme in einem Umfang von lediglich 1/4 der Erstattungsforderung zumindest erwogen werden können. Mit den Besonderheiten der Konstellation hätte die Beklagte sich näher auseinandersetzen müssen.

Praxishinweis

Zur Rückforderung überzahlter Pensionen von dem Erben vgl. VG Schleswig, BeckRS 2023, 13422. Auch hinsichtlich der Haftung für überzahlte Renten an die mittlerweile verstorbenen Versicherten gem. § 118 Abs. 4 SGB VI hat der Rentenversicherungsträger ein Ermessen auszuüben, vgl. LSG Hessen, BeckRS 2013, 199938, Rn. 22.

Die DRV hatte die beiden Schwestern als Gesamtschuldnerinnen in Anspruch genommen und offensichtlich darauf gesetzt, dass im Gesamtschuldnerausgleich gem. § 426 BGB die Schwestern die Last „gerecht“ verteilen. Das reicht als „Ersatz“ für die gebotene Ermessensausübung nicht aus.

BSG, Urteil vom 08.02.2023 - B 5 R 2/22 R, BeckRS 2023, 13780