Urteilsanalyse
Richterin in VW-Abgasverfahren befangen wegen eigener Beteiligung an Musterfeststellungsklage
Urteilsanalyse
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Die Beteiligung eines Richters an einer gegen eine Prozesspartei gerichteten Musterfeststellungsklage kann nach Ansicht des BGH insbesondere dann, wenn darin der Vorwurf einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung erhoben wird, die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. Dies gelte auch, wenn ein eigenes wirtschaftliches Interesse des Richters am Ausgang des Rechtsstreits ausgeschlossen ist, weil der Richter mit der Beklagten der Musterfeststellungsklage einen Vergleich abgeschlossen hat, und dieser Vergleich noch nicht lange Zeit zurückliegt.

4. Jun 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl

Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Berufsrecht 11/2021 vom 03.06.2021

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Sachverhalt

Die Klägerin in einem VW-Abgasverfahren (Dieselmotor Typ EA 897) hat nach Klageabweisung durch das Landgericht Berufung eingelegt. Die für die Berufung geschäftsplanmäßig zuständige Berichterstatterin war ebenfalls vom Abgasskandal betroffen (Dieselmotor Typ EA 189) und hatte sich der Musterfeststellungsklage vor dem Oberlandesgericht Braunschweig gegen Volkswagen angeschlossen und in dem dortigen Verfahren mit VW einen Vergleich geschlossen. VW lehnte die Berichterstatterin deshalb wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das Berufungsgericht wies das Ablehnungsgesuch als unbegründet zurück. Dagegen legte VW Rechtsbeschwerde ein.

Entscheidung: Richterin Gegnerin im Musterfeststellungsverfahren

Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts liege ein Ablehnungsgrund vor. Zwar sei es richtig, dass ein eigenes wirtschaftliches Interesse der Richterin am Ausgang des Rechtsstreits nicht erkennbar sei, nachdem die Geltendmachung ihrer Ansprüche durch den mit der Beklagten abgeschlossenen Vergleich einen Abschluss gefunden habe. Es liege auch keiner der Fälle einer Befangenheit wegen «atypischer Vorbefassung» vor, in denen der Richter in einer beruflichen oder dienstlichen Funktion zuvor mit einer vergleichbaren Fallgestaltung oder den Parteien befasst gewesen sei.

Allerdings sei die Beteiligung der abgelehnten Richterin an dem Musterfeststellungsverfahren geeignet, aus Sicht von VW den Anschein der Parteilichkeit zu begründen. Zwar trage das Musterfeststellungsverfahren dem Umstand Rechnung, dass Verbraucher es aus «rationalem Desinteresse» versäumen könnten, ihre Rechte geltend zu machen. Auch treffe es zu, dass der Verbraucher in diesem Verfahren nicht Partei, die abgelehnte Richterin mithin nicht «Prozessgegnerin» von VW gewesen sei. Dennoch sei die Richterin in diesem Verfahren gegenüber VW nicht neutral gewesen, sondern als deren Gegnerin erschienen. Die abgelehnte Richterin habe mit ihrer Beteiligung am Musterfeststellungsverfahren objektiv zu erkennen gegeben, dass sie ihrer Auffassung nach von VW vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt oder betrogen worden ist. Dies biete bei verständiger Würdigung des Sachverhalts einen Grund für die Befürchtung, die Richterin könne VW im vorliegenden Verfahren nicht mit der gebotenen Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit gegenübertreten.

Eine andere Beurteilung sei nicht deshalb gerechtfertigt, weil es im vorliegenden Fall um einen Dieselmotor des Typs EA 897 gehe und die Richterin die Verfolgung ihres Anspruchs durch Vergleich mit VW abgeschlossen habe. Denn zum einen habe sich die Klägerin zur Begründung ihres Anspruchs ausdrücklich auch auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Motortyp EA 189 berufen. Zum anderen könne angesichts der zeitlichen Nähe zum Vergleichsabschluss nicht mit einer genügenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die abgelehnte Richterin ihre – aus Sicht von VW negative – Haltung inzwischen geändert habe.

Praxishinweis

Sowohl das Berufungsgericht als auch der BGH sind davon ausgegangen, dass weder ein Fall der typischen noch der atypischen Vorbefassung der Richterin vorlag (siehe zu den Begriffen Vossler in BeckOK ZPO, § 42 ZPO, Rn. 16 f.). Für den konkreten Einzelfall bejahte der BGH aber gleichwohl aus Sicht der Beklagten den Anschein der Parteilichkeit, da die Richterin aufgrund der Beteiligung am Musterfeststellungsverfahren zwar nicht «Prozessgegnerin» der Beklagten gewesen sei, aber objektiv zu erkennen gegeben habe, dass sie ihrer Auffassung nach von der Beklagten vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt oder betrogen worden ist.

BGH, Beschluss vom 25.03.2021 - III ZB 57/20, rechtskräftig (OLG Frankfurt a. M.), BeckRS 2021, 11472