NJW: Was ist „responsive Rechtswissenschaft“?
Grünberger: Sie ist ein soziologisch informierter, rechtstheoretisch fundierter und folgenorientierter Zugang zum Recht. Es ist eine Methode, die es ermöglichen soll, Rechtsnormen mit Blick auf die von ihnen jeweils adressierten Umwelten des Rechts zu rekontextualisieren und – das ist der Clou daran – zugleich der Eigenrationalität des Rechts gerecht zu werden. Responsive Rechtswissenschaft befähigt das Recht (besser) dazu, seine vielfältigen sozialen Realitäten zu registrieren und sich davon produktiv irritieren zu lassen.
NJW: Haben Sie den Begriff erfunden?
Grünberger: Nein. Das gebührt Philippe Nonet und Philip Selznick (Law & Society in Transition – Towards Responsive Law, 1978). Gunter Teubner hat das Konzept als „reflexives Recht“ aufgegriffen und es beschrieben als ein Modell, „in dem Recht als flexible, lernfähige Institution erscheint, die sensibel reagiert auf soziale Bedürfnisse“. In der Sache reicht das weiter zurück. Es geht in der Debatte um den Spagat des modernen Rechts und seiner Wissenschaft: Einerseits ist seine Autonomie und Eigenrationalität zu wahren, wenn es „Recht“ bleiben soll, andererseits muss es die sich ständig verändernden gesellschaftlichen Realitäten verarbeiten können, um weiter relevant zu bleiben.
NJW: Geht es also darum, ob und wie beim rechtsdogmatischen Arbeiten beispielsweise ökonomische Wissensbestände berücksichtigt werden?
Grünberger: Richtig. Das sollte aber nicht „irgendwie“, sondern methodisch belastbar getan werden. Dafür bedarf es eines – zugegeben: recht komplizierten – Übersetzungsmechanismus: Das Recht ist im ersten Schritt für die unterschiedlichsten und häufig gegenläufigen Bedürfnisse seiner sozialen, technischen, wirtschaftlichen, kulturellen, humanen oder natürlichen Umwelten gleichermaßen zu sensibilisieren. Dafür muss die Rechtswissenschaft Rezeptoren identifizieren, um die außerrechtlichen Wissensbestände im Recht registrieren zu können. Im zweiten Schritt knüpft sie daran an und verarbeitet dieses Wissen systemintern weiter. In dieser eigenständigen Begriffsbildung liegt die eigentliche Leistung der Rechtsdogmatik. Die responsive Rechtsdogmatik geht bewusst noch den dritten Schritt und schlägt der Rechtspraxis neue Interpretationen oder Zugänge vor, um konkrete gesellschaftliche Probleme umweltsensibel zu lösen. Dafür muss sie, viertens, prospektiv einschätzen, ob und wie diese rechtliche Normänderung in der sozialen Welt aufgenommen werden wird. Weil das anders laufen kann als erwartet, müssen – fünftens – Korrekturmöglichkeiten eingebaut werden, um auf etwaige Fehleinschätzungen wieder rechtsintern reagieren zu können.
NJW: Wer soll das alles leisten? Praktiker sind damit doch überfordert, oder?
Grünberger: Fragen Sie das Juristen und Juristinnen, die in Regulierungsbehörden tätig sind – die tun das täglich und erfolgreich! Ich meine, dass dieser Zugang für viele Bereiche des modernen Privatrechts notwendig ist. Damit Gerichte das leisten können, bedarf es einer wissenschaftlichen Methode. Die Alternative ist entweder ein anything goes oder ein Verharren im status quo. Beides ist unbefriedigend. Deshalb richte ich mein Plädoyer primär an die (deutsche) Rechtswissenschaft. Ich sehe einen großen Bedarf an anspruchsvoller wissenschaftlicher Reflexion, wie man methodisch belastbar sozial- oder technikwissenschaftliche Wirklichkeitsbeschreibungen mit dogmatischen Begriffsanalysen verbinden und daraus neue Lösungen entwickeln kann. Ich habe versucht, das im Recht der digitalen Güter und der Datenwirtschaft, dem Nichtdiskriminierungsrecht und dem Urheberrecht zu zeigen.
NJW: Haben Sie insofern ein Alleinstellungsmerkmal?
Grünberger: Nur was die Lehrstuhlbezeichnung betrifft. Stellt man auf die Sache ab, so sind folgenorientierte und spezifisch responsive oder – eng damit verwandt – reflexive Zugänge weiter verbreitet. Neben ein paar arrivierten Kollegen und Kolleginnen finde ich gerade bei jüngeren Rechtswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen solche Ansätze. Ich bin deshalb für die Zukunft der responsiven Rechtswissenschaft sehr optimistisch!
NJW: Themenwechsel: Was wollen Sie als neuer Präsident anders machen als Ihre Vorgängerin?
Grünberger: Katharina Boele-Woelki hat viel erreicht: Sie hat die internationale Sichtbarkeit gestärkt, die Einführung von Juniorprofessorinnen mit Tenure Track betrieben und die erfolgreiche Reakkreditierung durch den Wissenschaftsrat verantwortet. Unter ihrer Ägide hat sich die BLS auch ein zukunftsfähiges Leitbild gegeben. Daran möchte ich mit drei Ansätzen anknüpfen: Responsivität, Diversität und Nachhaltigkeit.
NJW: Was bedeutet das konkret?
Grünberger: Mit „Responsivität“ knüpfe ich an das oben Gesagte an. Das möchte ich im Curriculum (auch jenseits des Staatsexamens) und – selbstverständlich im Rahmen der Forschungsfreiheit – auch im Forschungsprofil der Hochschule verankern. „Diversität“ bedeutet, Vielfalt und Pluralismus als Chance und als institutionelle Herausforderung zu begreifen: bei der – verbesserungsfähigen – Zusammensetzung unserer Studierenden, des Lehrkörpers und etwa auch, was behandelte Themen und Methoden angeht. Mit „Nachhaltigkeit“ beziehe ich mich hauptsächlich auf Organisationsprozesse, die Strukturen in den Mittelpunkt stellen, die eine Fokussierung auf Forschung und Lehre ermöglichen. Wir müssen hier besser sein als die etablierten Universitäten. Vielleicht sollten wir als private Hochschule traditionelle Strukturen auf den Prüfstand stellen und über neue, durchlässigere und zukunftsfähige Organisationsformen nachdenken.
NJW: Das wird nicht alle Beteiligten glücklich machen. Wie wäre größere Zufriedenheit für alle zu erreichen?
Grünberger: Es wird immer Kompromisse geben. Ich bin aber überzeugt, dass die – auch materiell auszudrückende – Wertschätzung der von Kollegen und Kolleginnen, Studierenden und dem wissenschaftsunterstützenden Mitarbeitenden geleisteten Arbeit ein wichtiger Baustein ist. Vor allem aber sind Abläufe so zu organisieren, dass Wissenschaftler, Wissenschaftlerinnen und Studierende mehr von ihrer kostbarsten Ressource haben: Zeit. Zeit für Forschung und Zeit für gute, moderne Lehre.
NJW: Sie haben von weiteren Studiengängen gesprochen. Welche Bedeutung haben diese?
Grünberger: Die Zahl von Jurastudierenden insgesamt wächst – während sie im Staatsexamensstudiengang abnimmt. Schauen Sie sich das Fachhochschulangebot von Studiengängen mit einem juristischen Schwerpunkt an! Das sollte für uns alle ein Weckruf sein. Wir benötigen neben dem Staatsexamen sinnvoll ausgestaltete Bachelor- und auch Masterstudiengänge auf universitärem Niveau, die juristische Kernkompetenzen mit einem vertieften Wissen in Nachbarsdisziplinen verbindet. Ich sehe darin eine Chance für eine plurale (responsive) Rechtswissenschaft.
NJW: Was bedeutet das für das Staatsexamen?
Grünberger: Ach, wo soll ich anfangen? Die Initiative iur.reform hat dazu gute Vorschläge gemacht. Darüber werden wir in einer Veranstaltung an der BLS im Herbst diskutieren. Das Staatsexamen verringert die Gatekeeperfunktion von Institutionen. Das ist sein großes egalitäres Potenzial. Es wird aber nicht richtig genutzt. Die Prüfungsformen sind nicht mehr zeitgemäß; die Prüfer und Prüferinnen aus der Praxis müssten geschult werden, um Leistungen besser beurteilen zu können; es müsste endlich ernst gemacht werden mit Struktur- statt Detailwissen. Wir brauchen innovative Juristen und Juristinnen, die die unbekannten Probleme von morgen lösen können! Das ist vielleicht meine schönste Aufgabe: junge Menschen dabei zu unterstützen, fachlich herausragend (aus-)gebildete und verantwortungsvolle Persönlichkeiten zu werden. Die für gleiche Freiheit und eine wehrhafte Demokratie eintreten. Diese brauchen wir in Deutschland und in Europa – dringender als mir lieb ist.
Prof. Dr. Michael Grünberger, geboren 1974 in Bozen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln. Dort 2005 Promotion („Das Interpretenrecht“). 2008–2011 DFG-Habilitationsstelle zum Projekt „Personale Gleichheit. Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht“. Nach der Habilitation in Köln Lehrstuhlvertretungen. 2012 übernahm er den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschafts- und Technikrecht an der Universität Bayreuth. Seit 1.10.2023 ist er Präsident der Bucerius Law School.
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