Urteilsanalyse
Rentenabschlag bei "vorzeitiger" Inanspruchnahme eines Altersruhegeldes
Urteilsanalyse
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Wer "vorzeitig" eine Altersrente in Anspruch nimmt, muss nach einem Urteil des BSG vom 11.12.2019 gem. § 77 SGB VI eine Verminderung des Zugangsfaktors um 0,003 pro Kalendermonat hinnehmen, unabhängig davon, ob er die Wartezeit für eine andere vorzeitige, aber ungekürzte Altersente erfüllt. Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann unterzieht diese Entscheidung einer kritischen Würdigung.

14. Aug 2020

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 14/2020 vom 31.07.2020

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Sozialversicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Sozialversicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Sozialversicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de


Sachverhalt

Im Streit steht die Höhe der Altersrente für langjährig Versicherte. Der Kläger wendet sich gegen die Minderung des Zugangsfaktors wegen vorzeitiger Inanspruchnahme dieser Rente.

Der 1954 geborene Kläger schloss im Jahre 2006 mit seinem Arbeitgeber einen Vertrag über Altersteilzeit im Blockmodell. Deren Freistellungsphase endete am 31.05.2016. Auf seinen Antrag gewährte die beklagte DRV dem Kläger eine Altersrente für langjährig Versicherte (gem. § 236 Abs. 3 Nr. 2a SGB VI). Danach konnte der Kläger diese Altersrente vorzeitig, nämlich ab Vollendung des 62. Lebensjahres in Anspruch nehmen. Gem. § 77 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI berücksichtigte die Beklagte für die Berechnung des Monatsbetrags der Rente einen verminderten Zugangsfaktor von 0,892 wegen vorzeitiger Inanspruchnahme um 36 Kalendermonate.

Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos. Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2a SGB VI. Die darin angeordnete Verringerung des Zugangsfaktors sei ein Eingriff in durch Art. 14 GG geschützte Eigentumsrechte, jedenfalls soweit diese für mehr als 16 Monate vorzeitiger Inanspruchnahme erfolge. Zwar sei dieser Eingriff durch das Ziel der Kostenneutralität eines vorzeitigen Rentenbezugs gerechtfertigt, jedoch gebiete es das Übermaßverbot, die Vorzeitigkeit anhand der frühestmöglichen abschlagfreien Altersrente zu bestimmen.

Tatsächlich hatte der Kläger zum Zeitpunkt des Rentenbeginns auch die Wartezeit von 45 Jahren erfüllt, so dass er gem. § 236b Abs. 2 SGB VI Altersrente für besonders langjährig Versicherte ab Vollendung des 63. Lebensjahres plus vier Monate hätte in Anspruch nehmen können, und zwar ungekürzt.

Entscheidung

Das BSG weist die Revision als unbegründet zurück. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine höhere Altersrente für langjährig Versicherte unter Anwendung eines günstigeren Zugangsfaktors. Die Zahl der Kalendermonate, für die eine Rente im Sinne des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2a SGB VI vorzeitig in Anspruch genommen wird, bestimmt sich nach der Differenz zwischen dem Alter des Versicherten bei Rentenbeginn einerseits und dem Alter, ab dem regelmäßig Anspruch auf die konkret in Anspruch genommene Rentenart besteht, andererseits. § 236 Abs. 1 SGB VI bestimmt im Falle des Klägers, dass er diese Rentenart um 36 Kalendermonate vorzeitig in Anspruch nehmen konnte und dies auch getan hat.

Danach ist der Kürzungsbetrag auch zutreffend berechnet.

Entgegen der Auffassung des Klägers kann der Begriff „vorzeitig“ in § 77 Abs. 2 SGB VI nicht durch Rückgriff auf die Wendung „eines für den Versicherten maßgebenden niedrigeren Rentenalters“ in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI bestimmt werden. Ob und um welche Zahl von Kalendermonate eine Rente wegen Alters im Sinne des § 77 Abs. 2 SGB VI „vorzeitig“ in Anspruch genommen wird, bestimmt sich allein nach der Differenz zwischen dem in den Regelungen über die konkret in Anspruch genommene Altersrentenart festgesetzten Alter, ab dem regelmäßig frühestens Anspruch auf diese Rente besteht. Dieses Verständnis des Begriffs „vorzeitig“ ergibt sich aus den jeweiligen Vorschriften über die unterschiedlichen Rentenarten. Der Senat verweist dazu auch auf die Gesetzeshistorie. Schließlich folge dieses Verständnis des Wortes „vorzeitig“ auch dem Regelungszweck. § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI ist Bestandteil eines umfassenden gesetzgeberischen Regelungskonzepts. In diesem Rahmen zeigt sich die Bezogenheit des Begriffs „vorzeitig“ auf das Alter, ab dem Versicherte eine bestimmte Rente wegen Alters regelmäßig in Anspruch nehmen können.

Die Vorschriften über die Minderung des Zugangsfaktors verstoßen nicht gegen Art. 14 GG oder Art. 3 GG. Für rentenrechtliche Anwartschaften ergibt sich die Reichweite der Eigentumsgarantie erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die festzulegen nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers ist (BVerfG, BeckRS 9998, 54186). Das BSG hat unter Bezug auf diesen Beschluss auch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit für mit dem Grundgesetz vereinbar gehalten (BSG, BeckRS 2010, 66850). Schließlich dient die Regelung über den Rentenabschlag auf dem Ziel einer kostenneutralen Leistung (bei vorzeitiger Inanspruchnahme). Das verstößt nicht gegen das Übermaßverbot und auch nicht gegen Art. 3 GG.

Praxishinweis

1. Der Rentenabschlag für die vorzeitige Inanspruchnahme eines Altersruhegeldes macht durchaus Sinn, insbesondere in den Fällen, in denen es in der Hand des Betroffenen liegt, wann die Rente beginnt. Der Kläger hat diesen Sinn durchaus anerkannt, aber völlig zutreffend eingewandt, dass er die Wartezeit für die – nach seinem Altersteilzeitvertrag angeführten – Rente ab 63 erfüllt hat. Warum – so fragt der Kläger völlig zurecht – erfolgt in seinem Fall eine lebenslange Kürzung der Rente (sicherlich mehr als 100 EUR/Monat)?

Der Rentenabschlag ist kalkuliert anhand der Zahl der Monate, für die die Rente vorzeitig in Anspruch genommen wird, die Solidargemeinschaft also zusätzlich finanziell belastet wird. Zusätzlich wird im vorliegenden Fall die Solidargemeinschaft um maximal 16 Monate belastet, nicht aber 36 Monate.

2. Der Gesetzgeber hat soeben entschieden, dass Rentnerinnen und Rentner, die langjährig berufstätig waren (35 Jahre), ein - bedarfsorientierter – Rentenzuschlag gewährt wird, allein deshalb, weil sie über Jahrzehnte versicherungspflichtig gearbeitet, Kinder erzogen oder gepflegt haben. Jedenfalls vor diesem Hintergrund ist ein gesetzgeberisches Regelungskonzept, was den Abschlag von 3 % je Kalendermonat für die Dauer von 36 Monaten rechtfertigt, nicht mehr erkennbar. Mit seinem Abschlag erfolgt eine „Re-Finanzierung“ für 36 Kalendermonate, von denen er 20 Kalendermonate bei späterem Rentenantrag abschlagsfrei beanspruchen konnte.

3. Die Klage des Klägers zielt nicht auf „Rosinenpickerei“, sondern macht ernst mit den Berechnungen, die dem Rentenabschlag zugrunde liegen. Der Kläger könnte vielleicht sogar noch fragen, ob der Rentenabschlag von 3 % pro Kalendermonat versicherungsmathematisch heute noch angemessen ist: Der Rentenabschlag wurde vor Jahrzehnten eingeführt, als die Lebenserwartung deutlich niedriger war. Nun wird mit einer deutlich längeren Lebensdauer ein vergleichsweise höherer Vorteil für die Rentenversicherung erzielt, der unter Umständen rein rechnerisch die mit der vorzeitigen Inanspruchnahme verbundenen zusätzlichen „Rentenlasten“ überschreitet.

BSG, Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 6/19 R, BeckRS 2019, 42970