NJW-Editorial
Renaissance des Mündlichkeitsprinzips?
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Der Mündlichkeitsgrundsatz hat im Zivilprozess schon länger einen eher schweren Stand. Praktisch kommt dem schriftsätzlichen Vortrag regelmäßig ein größeres Gewicht zu als den „in freier Rede“ gehaltenen Vorträgen (vgl. § 137 II ZPO). Und wo eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung möglich ist, wird so gut wie ausnahmslos davon Gebrauch gemacht.

29. Jul 2021

Die Corona-Pandemie hat diesen Trend zunächst noch verstärkt (vgl. Mantz/Spoenle, MDR 2020, 703). Sie könnte allerdings auf mittlere Sicht auch zu einer Renaissance des Mündlichkeitsprinzips führen. Denn im Zusammenspiel von Pandemie und sogenannten Dieselverfahren werden Videoverhandlungen in vielen Bundesländern und Gerichten zu einem immer selbstverständlicheren Bestandteil im prozessualen „Werkzeugkasten“. Sie kombinieren dabei die Vorteile eines schriftlichen Verfahrens mit denen einer mündlichen Verhandlung: Sie verursachen – insbesondere aufseiten der Parteien – wenig Aufwand, ermöglichen aber einen unmittelbaren Austausch von Rede und Widerrede und gewährleisten so eine höhere Richtigkeit der gerichtlichen Entscheidung.

Diese Vorteile legen es nahe, vom Werkzeug „Videoverhandlung“ auch oder sogar gerade dort Gebrauch zu machen, wo mündliche Verhandlungen freigestellt sind (§ 128 IV ZPO, vgl. auch § 495a ZPO) oder wo der Sach- und Streitstand formlos erörtert werden soll (s. dazu grundlegend Greger, NJW 2014, 2554). Die denkbaren Anwendungsbereiche sind vielfältig: Videoverhandlungen erleichtern es, in Verfahren nach § 495a ZPO oder beispielsweise in komplexen Beschwerdeverfahren aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, wo sonst im schriftlichen Verfahren entschieden worden wäre. Das Gericht kann der Passivseite im einstweiligen Rechtsschutz per Videoverhandlung rechtliches Gehör gewähren. Es kann mit den Parteien und dem Sachverständigen die genaue Formulierung der Beweisfragen oder das Vorgehen des Sachverständigen erörtern. Oder das Gericht nutzt diese Möglichkeit, um bereits vor der Terminierung mit den Parteivertretern abzustimmen, ob eher ein zeitnaher Termin zur Güteverhandlung oder die Einholung eines Sachverständigengutachtens gem. § 358a ZPO zielführend ist.

Wenn ein solches Vorgehen das Verfahren aber nicht verzögern soll, muss es allerdings möglich sein, die Bereitschaft hierzu kurzfristig abzuklären und gegebenenfalls einen Termin abzustimmen. Dazu wäre ein schneller, niedrigschwelliger, schriftlicher und rechtlich ausdrücklich eröffneter Kommunikationsweg zwischen den Prozessbeteiligten sehr hilfreich, wie ihn die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ in Form des elektronischen Nachrichtenraums jüngst vorgeschlagen hat.

Benedikt Windau ist Richter am LG Oldenburg, Gründer und Betreiber von zpoblog.de sowie Mitherausgeber der RDi – Recht Digital.