Urteilsanalyse
Reiserücktrittskostenversicherung ist eine Schadenversicherung
Urteilsanalyse
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Die Reiserücktrittskostenversicherung ist nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs eine Schadenversicherung im Sinne von § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG. Zu den nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG übergangsfähigen Ansprüchen gegen Dritte zählen nach Auffassung der Karlsruher Richter auch solche aus ungerechtfertigter Bereicherung gemäß §§ 812 ff. BGB.

8. Jun 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt Holger Grams, Kanzlei GRAMS Rechtsanwälte, Fachanwalt für Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 10/2021 vom 20.05.2021

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VVG § 86 I 1

Sachverhalt

Die Klägerin, ein Reiserücktrittsversicherer, macht gegen die Beklagte, eine Reiseveranstalterin, aus übergegangenem Recht einer Reisenden einen Anspruch auf Auskunft über die Höhe der Stornokosten und Rückzahlung desjenigen Betrages geltend, den die Beklagte wegen des Rücktritts der Reisenden vom Reisevertrag wegen einer unerwarteten, schweren Erkrankung über den tatsächlichen Rücktrittsschaden hinaus in Rechnung gestellt und durch Verrechnung mit dem gezahlten Reisepreis auch bereits erhalten habe. Die Klägerin hatte die vom Reiseveranstalter geltend gemachten Stornokosten durch Zahlung an ihre Versicherungsnehmerin reguliert.

Die Klage blieb in den Vorinstanzen erfolglos. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zurück.

Rechtliche Wertung

Die Regelung des § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG, wonach ein Ersatzanspruch eines Versicherungsnehmers gegen einen Dritten auf den Versicherer übergeht, soweit dieser dem Versicherungsnehmer den Schaden ersetzt, sei grundsätzlich anwendbar, so der BGH. Die Regelung sei aufgrund ihres Standortes im Gesetz nur auf die Schadensversicherung, nicht aber auf sogenannte Summenversicherungen (wie insbesondere z.B. Lebens- oder Krankentagegeldversicherung) anwendbar. Bei der Reiserücktrittskostenversicherung handle es sich aber um eine Schadensversicherung.

Maßgebend für die Abgrenzung zwischen Schadens- und Summenversicherung sei, ob die Versicherung auf die Deckung eines konkreten Schadens ausgerichtet ist (Schadensversicherung) oder ob sie einen abstrakt berechneten Bedarf (Summenversicherung) zu decken verspricht. In der Reiserücktrittskostenversicherung stehe die Versicherungsleistung nicht bereits bei Vertragsschluss als fixe Summe fest. Sie orientiere sich vielmehr an den dem Versicherungsnehmer ggf. vom Reiseveranstalter in Rechnung gestellten Stornokosten, die vom individuellen Reisepreis sowie dem Zeitpunkt und Umfang der Stornierung abhingen. Sie diene also dem Ersatz des dem Versicherungsnehmers im Einzelfall entstehenden Schadens.

Das Berufungsgericht habe rechtsfehlerhaft die Auffassung vertreten, dass es für einen Ersatzanspruch gegen einen Dritten im Sinn von § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG darauf ankomme, dass der Dritte auf das versicherte Gut des Versicherungsnehmers eingewirkt habe. Dies habe es mit der Begründung verneint, dass die Versicherungsnehmerin den Versicherungsfall selbst durch ihren Reiserücktritt ausgelöst habe.

Streitgegenständlich sei ein Anspruch der Versicherungsnehmerin gegen den Reiseveranstalter auf Rückzahlung überzahlter Stornokosten. Hierbei handle es sich um einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung nach §§ 812 ff. BGB. Auch solche Ansprüche würden von der Legalzession des § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG erfasst. Auf eine Einwirkung des Dritten, hier des Reiseveranstalters, auf das versicherte Gut komme es dafür nicht an. Nach dem Schutzzweck des § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG solle der Dritte durch die Leistung des Versicherers nicht entlastet werden und der Versicherungsnehmer sich nicht an der Leistung des Versicherers bereichern. Unerheblich sei, ob die Klägerin im Verhältnis zu ihrer Versicherungsnehmerin zur Erbringung der Versicherungsleistung verpflichtet war oder nicht. § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG finde auch bei einer Versicherungsleistung trotz fehlender rechtlicher Verpflichtung Anwendung (BGH, Urteil vom 23.11.1988 – IVa ZR 143/87, r+s 1989, 36).

Praxishinweis

§ 86 Abs. 1 Satz 1 VVG wurde schon bisher von der überwiegenden Auffassung als auf die Reiserücktrittskostenversicherung anwendbar angesehen (z.B. LG Stuttgart, Urteil vom 08.09.2016 - 27 O 425/15, BeckRS 2016, 132779; LG Hannover, Urteil vom 09.06.2016 - 4 S 36/15, BeckRS 2016, 138753; LG Coburg, Urteil vom 17.03.2014 - 14 O 298/13, BeckRS 2014, 126788; Voit in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 86 Rn. 33; jedenfalls entsprechend anwendbar: Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 31. Aufl. § 86 Rn. 5). Die Gegenansicht (Summenversicherung) wurde vertreten von LG München I, Urteil vom 27.04.2006 - 31 S 21056/05, BeckRS 2011, 12097; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, StrVR 26. Aufl. § 86 VVG Rn. 13).

Hilfreich ist auch die Klarstellung des BGH, dass es für die Anwendbarkeit des § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG nicht auf eine Einwirkung des Dritten auf das versicherte Gut ankommt. Es entspricht allgemeiner Ansicht, dass § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG (bzw. § 67 VVG a.F.) auch auf Bereicherungsansprüche Anwendung findet (z.B. BGH, Urteil vom 06.05.1971 – VII ZR 232/69, NJW 1971, 1452; OLG Hamm, Urteil vom 17.06.1993 - 27 U 62/93, NJW-RR 1994, 29; Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 31. Aufl. § 86 Rn. 7; MüKo-VVG/Möller/Segger, 2. Aufl. § 86 Rn. 55; Voit in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 86 Rn. 58).

BGH, Urteil vom 21.04.2021 - IV ZR 169/20 (LG München I), BeckRS 2021, 9840