Urteilsanalyse

Reich­wei­te der Bin­dungs­wir­kung des § 118 SGB X
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Die Bin­dungs­wir­kung des § 118 SGB X um­fasst le­dig­lich die Tat­sa­che, dass ein be­stimm­ter Leis­tungs­trä­ger in einem be­stimm­ten Um­fang zur Leis­tung ver­pflich­tet ist. Nicht er­fasst wird nach einem Ur­teil des Ober­lan­des­ge­richts Hamm die Ent­schei­dung über ein­zel­ne Vor­aus­set­zun­gen der Leis­tungs­pflicht.

14. Jun 2022

Rechts­an­walt Felix Fi­scher, Pla­ge­mann Rechts­an­wäl­te Part­ner­schaft mbB, Frank­furt am Main

Aus beck-fach­dienst So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht 12/2022 vom 10.06.2022

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des So­zi­al­ver­si­che­rungs­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de


Sach­ver­halt

Die Klä­ge­rin als zu­stän­di­ge So­zi­al­ver­si­che­rungs­trä­ge­rin macht gegen die Be­klag­te, eine Kfz-Haft­pflicht­ver­si­che­rung, An­sprü­che aus über­ge­gan­ge­nem Recht in Form von Aus­bil­dungs­kos­ten (zum einen für eine Eig­nungs­er­pro­bung, zum an­de­ren für die Aus­bil­dung selbst) sowie die Fest­stel­lung der künf­ti­gen Ein­tritts­pflicht gel­tend. Die Haf­tung der Be­klag­ten dem Grun­de nach steht nicht im Streit.

Bei dem Un­fall er­litt die Ver­si­cher­te der Klä­ge­rin u.a. eine Frak­tur des 5. Len­den­wir­bel­kör­pers (LWK). Sie schloss ihre Schul­bil­dung un­ter­durch­schnitt­lich ab; der von ihr fa­vo­ri­sier­te Beruf der Fri­seu­rin war auf­grund der Funk­ti­ons­min­de­rung der Wir­bel­säu­le nicht mög­lich. Daher be­an­trag­te die Ver­si­cher­te bei der Klä­ge­rin Leis­tun­gen zur Teil­ha­be am Ar­beits­le­ben, wel­che ihr von der Klä­ge­rin per Be­scheid be­wil­ligt wur­den und nahm an einer Eig­nungs­er­pro­bung teil. Das hier­zu an­ge­fer­tig­te me­di­zi­ni­sche Gut­ach­ten weist die Ver­si­cher­te als ge­eig­net zur Ver­rich­tung leich­ter bis mit­tel­schwe­rer kör­per­li­cher Tä­tig­kei­ten in wech­seln­den Po­si­tio­nen aus. Im wei­te­ren Ver­lauf ab­sol­vier­te die Ver­si­cher­te eine Aus­bil­dung zur Me­di­en­tech­no­lo­gin; in die­ser Zeit nahm die Ver­si­cher­te an einem Prak­ti­kum teil, bei dem sie ver­stärkt unter Lum­bal­gi­en litt. Nach Ende der Aus­bil­dung war die Ver­si­cher­te zu­nächst ar­beits­los und an­schlie­ßend als Pro­duk­ti­ons­hel­fe­rin tätig.

Die Klä­ge­rin be­haup­tet, sie habe Leis­tun­gen zur Teil­ha­be am Ar­beits­le­ben in­fol­ge des Ver­kehrs­un­fal­les be­wil­li­gen und er­brin­gen müs­sen, da die Ver­si­cher­te ihren ei­gent­lich an­vi­sier­ten Beruf als Fri­seu­rin nicht hätte aus­üben kön­nen. Der Beruf der Me­di­en­tech­no­lo­gin sei lei­dens­ge­recht, wobei beide Punk­te im Ver­fah­ren strei­tig waren. Die Frage der Er­for­der­lich­keit der Aus­bil­dung sei be­reits im Ver­wal­tungs­ver­fah­ren ge­klärt und nicht durch ein Zi­vil­ge­richt über­prüf­bar.

Ent­schei­dung

Das OLG gab der Klage teil­wei­se statt, indem es die Be­klag­te zur Zah­lung der Kos­ten für die Eig­nungs­er­pro­bung ver­ur­teil­te. Im Üb­ri­gen wies es die Klage ab.

Es fehle, be­tref­fend die Er­satz­fä­hig­keit der Aus­bil­dungs­kos­ten, an der haf­tungs­aus­fül­len­den Kau­sa­li­tät. § 118 SGB X um­fas­se le­dig­lich die Tat­sa­che, dass und in wel­chem Um­fang ein Leis­tungs­trä­ger zur Leis­tung ver­pflich­tet sei. Nicht ge­bun­den sind die Zi­vil­ge­rich­te gem. § 118 SGB X an die Ent­schei­dung über die ein­zel­nen Vor­aus­set­zun­gen der Leis­tungs­pflicht, da im so­zi­al­recht­li­chen Ver­fah­ren be­reits ein an­de­rer Kau­sa­li­täts­be­griff gelte. Die Re­ge­lung solle le­dig­lich ver­hin­dern, dass Zi­vil­ge­rich­te ge­hal­ten wären, so­zi­al­recht­li­che Vor­fra­gen in­ner­halb eines Zi­vil­pro­zes­ses zu klä­ren. Dem­ge­mäß müss­ten die Kau­sa­li­täts­fra­gen, ob die Um­schu­lung durch den Un­fall ver­ur­sacht wor­den ist, eben­so wie die Er­for­der­lich­keit, selbst­stän­dig durch die Zi­vil­ge­rich­te über­prüf­bar sein. Zwar sei an­zu­er­ken­nen, dass Schä­di­ger auch Kos­ten zur Um­schu­lung oder Aus­bil­dung des Ge­schä­dig­ten tra­gen könn­ten. Dies setze aber vor­aus, dass die kon­kre­te Um­schu­lung ex-ante über­haupt ge­eig­net war, den Ge­schä­dig­ten in einen lei­dens­ge­rech­ten Beruf zu (über-) füh­ren. Hier­für sei eine Eig­nungs­er­pro­bung ex ante zu­nächst ge­eig­net und die Kos­ten hier­für er­stat­tungs­fä­hig. Nach den Fest­stel­lun­gen des Se­nats war der Be­weis der Ge­eig­net­heit im Üb­ri­gen nicht er­bracht wor­den. Der hier­zu be­auf­trag­te Sach­ver­stän­di­ge hatte an­ge­ge­ben, dass der hier er­lern­te Beruf der Me­di­en­tech­no­lo­gin in­fol­ge von be­ruf­li­chen An­for­de­run­gen wie lan­gem Ste­hen und dem Aus­wech­seln von Druck­wal­zen an­stren­gend sei und daher mit dem Beruf einer Fri­seu­rin, was die Be­las­tung des Rü­ckens an­ge­he, durch­aus ver­gleich­bar. Daher wies das OLG die Klage im We­sent­li­chen ab.

Pra­xis­hin­weis

1. Das Ur­teil ver­dient Zu­stim­mung. Es knüpft an die Recht­spre­chung des BGH vom 16.03.2021 (BeckRS 2021, 6374) an. In die­ser Ent­schei­dung stellt der BGH klar, dass Zi­vil­ge­rich­te die Ent­schei­dung der Ver­wal­tung zwar nicht auf ihre Rich­tig­keit hin über­prü­fen kön­nen (vgl. auch BGH, BeckRS 2020, 21360); der Um­fang der Bin­dungs­wir­kung wird von dem Re­ge­lungs­ge­halt des Ver­wal­tungs­ak­tes be­stimmt und durch die­sen be­grenzt. Bei der sei­ner­zeit streit­ge­gen­ständ­li­chen Ver­set­zung eines Be­am­ten in den Ru­he­stand wegen Dienst­un­fä­hig­keit er­streck­te sich der Re­ge­lungs­ge­halt des Ver­wal­tungs­ak­tes daher nicht auf die Frage, ob diese Ver­set­zung eine un­fall­kau­sa­le Folge ist. Die­ser As­pekt un­ter­liegt der selbst­stän­di­gen Prü­fung durch die Zi­vil­ge­rich­te.

2. Im Üb­ri­gen gel­ten sol­che Ver­wal­tungs­ent­schei­dun­gen auch le­dig­lich inter par­tes und nicht ge­gen­über nicht am Ver­wal­tungs­ver­fah­ren be­tei­lig­ten Drit­ten, vgl. BGH, BeckRS 2019, 8516.

Nichts an­de­res er­gibt sich daher auch für § 118 SGB X, der be­tref­fend die Scha­dens­kau­sa­li­tät eben­falls kei­ner­lei zi­vil­recht­li­che Bin­dungs­wir­kung ent­fal­tet, wie der BGH in der o.g. Ent­schei­dung aus­drück­lich dar­stellt. Die Ent­schei­dung des OLG wen­det diese Grund­sät­ze kon­se­quent an.

3. Be­tref­fend die Nach­weis­pflich­ten des Ar­beit­ge­bers oder der SV-Trä­ger hat sich der BGH eben­falls erst kürz­lich mit Ur­teil vom 23.06.2020 (BeckRS 2020, 15991) zu Wort ge­mel­det. In die­ser Ent­schei­dung wie­der­holt der zu­stän­di­ge Senat, dass für So­zi­al­ver­si­che­rer wie Ar­beit­ge­ber die glei­chen Be­weis­grund­sät­ze gel­ten wie für den Ge­schä­dig­ten selbst (vgl. z.B. auch BGH, BeckRS 2013, 17403). Das Vor­lie­gen einer un­fall­kau­sa­len Ver­let­zung wie auch deren kau­sa­le Fol­gen sind durch den Ge­schä­dig­ten bzw. den re­gres­sie­ren­den Drit­ten zu be­wei­sen.


OLG Hamm, Ur­teil vom 22.02.2022 - 26 U 67/21, BeckRS 2022, 8003