Rechtsanwalt Felix Fischer, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 25/2022 vom 09.12.2022
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Sachverhalt
Das klagende Land begehrt von dem beklagten Entschädigungsfonds die Feststellung der Ersatzpflicht von Leistungen, die es nach dem OEG in der geltenden Fassung vom 25.07.2017 gegenüber den Opfern einer Amokfahrt mittels Kfz erbracht hat. Der Täter fuhr vorsätzlich in eine Menschenmenge, tötete vier Menschen, verletzte weitere 20 und beging anschließend Suizid. Die Kfz-Haftpflichtversicherung war gem. § 103 VVG leistungsfrei.
Das Land erbrachte den Geschädigten bzw. Hinterbliebenen Leistungen nach dem OEG in der alten Fassung. Dort heißt es u.a.:
„§ 1 Anspruch auf Versorgung
(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes.
(…)
(11) Dieses Gesetz ist nicht anzuwenden auf Schäden aus einem tätlichen Angriff, die von dem Angreifer durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verursacht worden sind.
(12) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4).“
Per Erlass vom 16.04.2018 stimmte das Sozialministerium des klagenden Landes der Anwendung des OEG zu. In der Folge wurden auf der Grundlage von bestandskräftigen Leistungsbescheiden Leistungen im Umfang von über 300.000 EUR erbracht.
Das klagende Land begehrt nunmehr die Feststellung, dass der beklagte Verein verpflichtet ist, die auf das Land übergegangenen kongruenten Leistungen zu ersetzen, die aufgrund der Amokfahrt erbracht wurden bzw. künftig noch erbracht werden.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Es war der Auffassung, dass ein Forderungsübergang bereits nicht stattgefunden habe. Es verwies auf die eindeutige Regelung des § 1 Abs. 11 OEG a.F. Es fehle an der erforderlichen Rechtsgrundlage, die das Ministerium dazu ermächtige, den Leistungsausschluss gem. § 1 Abs. 11 OEG a.F. auszuhebeln. Ein Anspruchsübergang folge auch nicht aus § 116 SGB X, da das Land kein Sozialversicherungsträger sei. Im Übrigen scheitere der Anspruch an § 12 Abs. 1 Satz 3 PlfVG, da das Land Versorgungsbezüge i.S.d. § 81a BVG erbracht habe, welche nicht erstattungsfähig seien.
Entscheidung
Das OLG änderte das Urteil des LG ab und gab dem Feststellungsbegehr im Ergebnis statt. Es sieht die Voraussetzungen der §§ 5 OEG aF iVm § 81a BVG als gegeben an. Das klagende Land hatte im Termin zur mündlichen Verhandlung offenbar vorgetragen, dass es bestandskräftige Leistungsbescheide an die Opfer der Amokfahrt erteilt habe.
Aufgrund dieser Bestandskraft greife nach Ansicht des Senates die Regelung des § 118 SGB X in analoger Anwendung ein. Dies ergebe sich aus dem Sinn und Zweck der Regelung, dass nämlich sozialrechtliche Vorfragen nicht von den Zivilgerichten selbstständig überprüft werden können und sollen.
Eine Grenze ergebe sich allenfalls dann, wenn der zugrundeliegende Verwaltungsakt nichtig iSd § 44 LVwVfG NRW nichtig wäre, was jedoch mangels entsprechender Einwände und Beweisangebote nicht zu prüfen gewesen sei.
Auch sei vorliegend kein von vornherein unzuständiger Leistungsträger tätig geworden, was in der Folge der Rechtsprechung des BGH (BeckRS 2009, 14807) einer Anwendung des § 118 SGB X entgegenstehen könnte, da sich aus § 1 Abs. 12 OEG aF ergebe, dass das Land davon ausgehen durfte, zur Leistung verpflichtet zu sein.
Schließlich handle es sich bei den Leistungen des Landes auch nicht um „Versorgungsbezüge“ i.S.d. § 12 PflVG. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass § 12 PflVG bereits 1965 erlassen wurde und daher keine Leistungen meinen könne, die erst später vom Gesetzgeber als Leistungen in Gesetzesform gebracht wurden.
Die Revision wurde zugelassen und eingelegt (VI ZR 297/22).
Praxishinweis
1. Die Entscheidung des OLG ist zu kritisieren. So ist bereits nicht nachvollziehbar, aufgrund welcher Grundlage das Land im Verhältnis zu den Geschädigten zur Zahlung verpflichtet war. Eine taugliche Anspruchsgrundlage fehlte seinerzeit (nunmehr ist ein entsprechender Anspruch ausdrücklich in § 1 Abs. 8 OEG n.F. geregelt). Insoweit scheint der Grundsatz der Subsidiarität nicht so recht betrachtet worden zu sein, § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB. Der Rechtsgedanke dieser Vorschrift ist eindeutig: Der Staat haftet nicht, solange ein anderer haftet. Dieser „andere“ ist in § 12 PflVG ausdrücklich benannt.
2. Daher scheint es auch etwas konstruiert, wenn man die Befugnis zur Erteilung von Leistungs-bescheiden aus § 1 Abs. 12 OEG aF meint, ableiten zu können, obwohl Abs. 11 dieser Vorschrift expressis verbis davon spricht, dass das Gesetz keine Anwendung findet, wenn ein tätlicher Angriff durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeuges verursacht wurde. Schließlich hätte es sicherlich auch nahegelegen, eine etwaige Nichtigkeit der Bescheide nach § 40 SGB X zu prüfen, da die Bescheide auf einem gegen § 1 Abs. 11 OEG aF verstoßenden Erlass gestützt wurden. Der Akt eines Ministeriums als Organ der Exekutive kann nicht ein Gesetz außer Kraft setzen. Ob hier auf die zivilrechtlichen Grundsätze des (Nicht-) Bestreitens abgestellt werden kann, darf ebenfalls bezweifelt werden. Schließlich ist auch ein Zivilgericht gehalten, auf Grundlage von wechselseitigem Tatsachenvortrag die Rechtslage selbstständig zu prüfen.
3. Im vorliegenden Fall wäre zu überlegen gewesen, ob nicht vom Rechtsgedanken des § 814 BGB Gebrauch gemacht werden sollte. Denn das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete kann bekanntlich dann nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet war, oder wenn die Leistung einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprach. So kann jedenfalls der im Urteil zitierte Satz des Erlasses des Sozialministeriums verstanden werden, wenn es dort heißt: „Eine Nichtanwendung des OEG erachte ich in der Gesamtschau als eine für die Betroffenen unbillige Härte.“
OLG Hamm, Urteil vom 23.09.2022 - 11 U 192/21, BeckRS 2022, 27824