Anmerkung von
JR Dr. Wolfgang Litzenburger, Notar in Mainz
Aus beck-fachdienst Erbrecht 10/2021 vom 24.08.2021
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Sachverhalt
Mit der Klage nimmt der 1974 geborene, vom Erblasser 1975 adoptierte Kläger die Beklagte zu 1. als Alleinerbin auf Auskunft über den Bestand und den Wert des Nachlasses nach dem Tod des 2018 verstorbenen Erblassers in Anspruch. Der Erblasser war 1936 in England geboren worden und hatte dort die ersten 28 Jahre gelebt. Seit 1965 lebte er in der Bundesrepublik Deutschland, hat aber die britische Staatsangehörigkeit nie aufgegeben.
Mit Testament vom 13.03.2015 hat der Erblasser die Beklagte zu 1 zur Alleinerbin eingesetzt und für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht gewählt.
Das LG hat in seinem Urteil die Rechtswahl des britischen Staatsangehörigen als wirksam angesehen und deshalb einen Pflichtteilsanspruch des Klägers abgelehnt. Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers.
Entscheidung: Dem Kläger steht trotz der Wahl englischen Erbrechts gegen die Beklagte zu 1. ein Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch nach deutschem Pflichtteilsrecht zu.
Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte zu 1. folgt aus § 2314 Abs. 1 BGB. Der Kläger ist pflichtteilsberechtigt gemäß §§ 2303 Abs. 1, 1754, 1755 BGB i.V.m. Art. 12 II §§ 2 II, III, § 3 I AdoptG, weil er als Adoptivsohn von der Erbfolge ausgeschlossen worden ist.
Einem Anspruch des Klägers aus § 2314 Abs. 1 BGB steht nicht entgegen, dass der Erblasser in dem streitbefangenen Testament für die Rechtsfolge von Todes wegen in sein gesamtes Vermögen das englische Recht als Teilrecht seines Heimatstaates gewählt hat.
Es stand dem Erblasser allerdings frei, für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates zu wählen, dem er im Zeitpunkt der Rechtswahl angehörte. Weiterer Anknüpfungspunkte als die Staatsangehörigkeit bedurfte es für die Gültigkeit der getroffenen Rechtswahl nicht. Dass das streitbefangene Testament vom 13.03.2015 stammt, während die EuErbVO erst seit dem 17.08.2015 gilt, steht der Anwendung der vorgenannten Vorschrift wegen der Übergangsregelung in Art 83 Abs. 4 EuErbVO nicht entgegen.
Die Anwendung englischen Rechts scheidet im konkreten Fall aber deshalb aus, weil sie mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar ist, Art. 35 EuErbVO. Weil die englische Rechtsordnung nahen Verwandten keinerlei Pflichtteils- oder Noterbrechte am Nachlass zugesteht, führt die Rechtswahl vorliegend zu einem mit dem deutschen ordre public unvereinbaren Ergebnis, so dass sich deutsches Recht gegenüber diesem „Rechtsvakuum“ durchsetzt. Art. 35 EuErbVO greift nämlich auch dann ein, wenn keine Anwendung einer ausländischen Vorschrift gegeben ist, was etwa dann der Fall ist, wenn es nach der ausländischen Rechtsordnung überhaupt keinen Pflichtteil gibt.
Art. 35 EuErbVO untersagt ebenso wie Art. 6 S. 1 EGBGB die Anwendung einer Rechtsnorm eines anderen Staates, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Allerdings führt nicht jede Anwendung ausländischen Rechts, die bei einem Inlandsfall grundrechtswidrig wäre, bereits zur offensichtlichen Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts. Entscheidend ist vielmehr, ob das jeweilige Grundrecht für den konkreten Sachverhalt Geltung beansprucht, was wesentlich vom Inlandsbezug des Einzelfalls abhängt (vgl. etwa BGH, FamRZ 1993, 316 Rn. 11 m.w.Nw.).
Gemessen an diesen Kriterien hält der Senat vorliegend einen offensichtlichen Verstoß gegen den deutschen ordre public für gegeben.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG (NJW 2005, 1561, 1563) gewährleistet die Erbrechtsgarantie in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG den Kindern des Erblassers eine grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung an dessen Nachlass. Zu den von ihr erfassten traditionellen Kernelementen des deutschen Erbrechts gehöre auch das Recht der Kinder des Erblassers auf eine dem Grundsatz nach unentziehbare und bedarfsunabhängige Teilhabe am Nachlass. Das Pflichtteilsrecht stehe in einem engen Sinnzusammenhang mit dem durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz des Verhältnisses zwischen dem Erblasser und seinen Kindern. Das Pflichtteilsrecht habe die Funktion, die Fortsetzung des ideellen und wirtschaftlichen Zusammenhangs von Vermögen und Familie - unabhängig von einem konkreten Bedarf des Kindes - über den Tod des Vermögensinhabers hinaus zu ermöglichen.
Mit dieser verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassverteilung ist die Anwendung englischen Rechts im vorliegenden Fall offensichtlich unvereinbar.
Das englische Erbrecht kennt keinen Pflichtteil. Kinder des Verstorbenen können für den Fall, dass sie nicht ausreichend bedacht wurden, bei Gericht lediglich eine „angemessene finanzielle Regelung“ nach dem „Inheritance (Provisions for Familiy und Dependants) Act 1975“ beantragen. Als angemessen gilt dabei eine Vermögensbeteiligung grundsätzlich nur dann, wenn sie vernünftigerweise und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls für den Unterhalt des Antragstellers getätigt worden wäre. Erwachsenen Kindern steht danach regelmäßig kein Anspruch auf eine Teilhabe am Nachlass zu. Das aber verstößt gegen die im GG verankerte Erbrechtsgarantie, nach der eine Teilhabe der Kinder am Nachlass der Eltern nicht von deren Bedürftigkeit abhängig gemacht werden darf. Das englische Recht rückt das Nachlassrecht in die Nähe des Unterhaltsrechts und ist schon deshalb nicht mit der im deutschen Recht verankerten Auffassung von einer gerechten Nachlassverteilung in Einklang zu bringen. Hinzu kommt, dass Sektion 1 des Inheritance Act 1975 für die dort genannten Personen nur dann einen Anspruch auf eine angemessene finanzielle Beteiligung am Nachlass vorsieht, wenn der Erblasser im Zeitpunkt des Todes seinen Wohnsitz in England oder Wales hatte. Damit knüpft das englische Recht an Voraussetzungen an, die nach dem deutschem Recht im Rahmen der Nachlassverteilung gerade keine Rolle spielen sollen. Nach deutschem Rechtsverständnis sind vielmehr die grundsätzlich unauflösbare Beziehung zwischen Eltern und Kinder und die daraus erwachsene Familiensolidarität ausschlaggebend für eine Teilhabe der Kinder am Nachlass ihrer Eltern. Schließlich kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Inheritance Act 1975 die Entscheidung darüber, ob der Antragsteller eine finanzielle Zuwendung erhält und, wenn ja, in welcher Höhe, in das Ermessen des Gerichts stellt. Zwar werden einzelne Faktoren benannt, die bei der Entscheidung ins Gewicht fallen können; deren Gewichtung aber wird dem Gericht überlassen. Auch dies widerspricht der nach deutschem Rechtsverständnis gebotenen und im Grundgesetz verankerten Garantie einer bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern.
Die in der Literatur vertretene Auffassung, dass ein Verstoß gegen den deutschen ordre public jedenfalls dann ausscheidet, wenn das Fehlen des Pflichtteilsanspruchs durch Ersatzmechanismen abgemildert werde, etwa durch Noterbrechte oder Unterhaltsansprüche (vgl. Stürner, GPR 2014, 317, 323; Schmidt, in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand
Soweit die ältere Rechtsprechung (vgl. OLG Köln FamRZ 1976, 170; OLG Hamm FamRZ 2005, 1705) noch angenommen hat, dass das Bestehen eines famliären Pflichtteils- und Noterbrechts nicht zum deutschen ordre public zählt, hält der Senat dies auf der Grundlage des von dem BVerfG in der vorgenannten Entscheidung dargelegten Verständnisses von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG nicht mehr für vertretbar (so wohl auch KG NJW-RR 2008, 1109, 1111 m. Anm. Steinhauer, FD-ErbR 2008, 259595).
Da das vom Erblasser gewählte englische Recht überhaupt kein Pflichtteilsrecht kennt und auch die Regelungen des Inheritance Act 1975 keinen den Anforderungen des Art. 14 GG genügenden Ausgleich schaffen können, muss zur Gewährleistung einer dem deutschen ordre public entsprechenden Regelung auf die Vorschriften des deutschen Pflichtteilsrechts zurückgegriffen werden.
Als Pflichtteilsberechtigter kann der Kläger deshalb gemäß § 2314 Abs. 1 S. 1 BGB verlangen, dass die Beklagte zu 1. ihm Auskunft über den Bestand des Nachlasses seines Vaters zum Zeitpunkt des Erbfalls erteilt.
Praxishinweis
Der Senat will mit dieser Grundsatzentscheidung nichts weniger herbeiführen als eine Rechtsprechungsänderung in Deutschland. Bereits während der Beratungen der 2015 in Kraft getretenen EUErbVO wurde heftig darüber gestritten, in welchem Umfang es zugelassen werden darf, dass ein Erblasser durch Rechtswahl ihm unliebsame Erbfolgeregeln umgeht. Um aus Sicht der Erblasser missratenen Abkömmlingen den Pflichtteil vollständig zu entziehen, ist in der Vergangenheit in geeigneten Fällen das Mittel der Rechtswahl eines Erbrechts empfohlen worden, das kein Pflichtteilsrecht kennt, insbesondere das englische Recht. Nachdem bereits im Jahre 2008 das KG (a.a.O.) Zweifel an einer solchen Rechtswahl angemeldet hatte, will das OLG Köln mit diesem Urteil unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung nach Inkrafttreten der EUErbVO Rechtswahlen englischen Rechts die Anerkennung verweigern, soweit es um das Pflichtteilsrecht geht.
Der Senat hat diesen Fall deshalb genutzt, um diese bislang ungeklärte Rechtsfrage einer höchstrichterlichen Klärung durch den BGH zuzuführen. Dieser hat dabei Gelegenheit, sich auch mit zwei Entscheidungen des französischen Kassationsgerichtshof (Cour de Cassation) vom 27.9.2017 (Cass Civ 1 du 27/09/17 n° 16-13151, n° 16-17198) auseinanderzusetzen (Süß ZEV 2017, 567). Dieser hatte entschieden, dass die Wahl kalifornischen Rechts anzuerkennen sei, weil ein vollständiger Ausschluss von Pflichtteilsansprüchen, der sich aus der Anwendung eines fremden Erbrechts ergibt, im Regelfall keinen Verstoß gegen den ordre public darstelle. Es sei nicht zu beanstanden, dass das fremde Erbrecht den volljährigen Kindern der Erblasser einen Pflichtteil versage, vorausgesetzt allerdings, die volljährigen Kinder befänden sich nicht in einer finanziellen Notlage oder Bedürftigkeit. Auch der Umstand, dass die Erblasser schon seit mehr als 30 Jahren in den USA gelebt hätten und dort ihr Vermögen belegen sei, wertete der Kassationsgerichtshof als wichtige Grundlage seiner Entscheidung. Diese Entscheidungen des französsichen Gerichts bewegen sich auf der Linie der bislang in Deutschland vertretenen Meinungen in Rechtsprechung und Literatur, die eine Verletzung des ordre public nur unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung der Versorgung des Pflichtteilsberechtigten annehmen wollen.
Doch diese Entscheidung des OLG Köln hat sehr viel weitreichender Folgen als dies auf den ersten Blick erscheint. Diese verweigert nicht nur der Wahl eines Erbrechts, das ein Pflichtteilsrecht überhaupt nicht kennt, die Anerkennung, sondern zeigt in seiner kategorischen Begründung den Weg dazu, auch die Wahl von Rechtsordnungen zu ignorieren, die ein hinter dem bundesrepublikanischen Pflichtteilsrecht zurückbleibende Beteiligung am Nachlass vorsehen. Da dies in einer Vielzahl von Staaten der Fall ist, wird die Möglichkeit der Rechtswahl auf der Grundlage des Art. 35 EUErbVO in Deutschland wesentlich eingeschränkt.
Deshalb ist zu hoffen, dass in absehbarer Zeit der BGH dazu eine klare Entscheidung trifft. Bis dahin sollte darauf verzichtet werden, zur Vermeidung von Pflichtteilsansprüchen ausländisches Recht zu wählen. Auch dann, wenn der BGH die Wahl einer Rechtsordnung ohne Pflichtteilsregeln erlauben sollte, besteht nach wie vor die Gefahr, dass diese wegen Gestaltungsmissbrauchs nicht anerkannt wird. Auch der Senat des OLG Köln verweist in seiner Begründung darauf, dass nicht erkennbar gewesen sei, dass die Rechtswahl nur zum Zweck der Pflichtteilsentziehung erfolgt sei. Wer sich trotzdem zu dieser Rechtswahl entschließt, sollte vor allem vorweggenommene Erbfolgen als Gestaltungsalternativen niemals außer Acht lassen. Dabei scheiden allerdings Nutzungsvorbehalte aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung aus (Vgl. BGH BeckRS 2016, 12488 m. Anm. Litzenburger FD-ErbR 2016, 379964).
OLG Köln, Urteil vom 22.04.2021 - 24 U 77/20, BeckRS 2021, 15421