Kolumne
Rechtsstaat und Justiz in der Rechtsgemeinschaft
Kolumne
© Nicola Quarz

Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zur Unvereinbarkeit von Vorschriften der Unionsverträge mit der polnischen Verfassung rührt an Grundfragen der EU. In der ersten Welle der Empörung wurde ihm attestiert, es lege „die Axt an die Säulen, auf denen die Union ruht“. Zumindest unterschwellig, wenn nicht explizit, war zu vernehmen, es sei das Bundesverfassungsgericht, das, um bei dieser Metapher zu bleiben, mit seinem PSPP-Urteil vom 5.5.2020 die Axt erst geschärft habe. 

21. Okt 2021

Die Besorgnis, andere Mitgliedstaaten und deren Verfassungsgerichte könnten sich hierdurch ermutigt sehen, den Suprematieanspruch des EuGH oder gar das „nirgendwo sonst“ der Kommissionspräsidentin in Zweifel zu ziehen, dürfte auch bestimmend für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik gewesen sein. Es wird hier offensichtlich von seinen Initiatoren instrumentalisiert, um deren Auffassung vom Recht der Union als einer autonomen, nicht abgeleiteten Ordnung durchzusetzen, wie sie der EuGH vertritt.

Das PSPP-Urteil mochte für den Gerichtshof, der sich stets in wesentlich geringerem Ausmaß als nationale Gerichte kritischem Diskurs ausgesetzt sah, verstörend wirken – eine Blaupause für das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist es keinesfalls. Das Bundesverfassungsgericht postuliert keine Unvereinbarkeit von Normen des Unionsrechts mit dem Grundgesetz, es stellt den prinzipiellen Vorrang des Unionsrechts ebenso wenig in Frage wie die Maßgeblichkeit der Rechtsprechung des EuGH. Es stellt jedoch klar, dass in der EU als einer Rechtsgemeinschaft alle Beteiligten der Herrschaft des Rechts unterworfen, an dessen Kompetenzordnung gebunden sind. Ob für die Gerichtsverfassung in den Mitgliedstaaten eine Zuständigkeit der EU besteht, mag diskussionswürdig sein, doch durfte das polnische Verfassungsgericht darüber nicht das Rechtsstaatsprinzip nach dem EU-Vertrag grundsätzlich in Frage stellen. Dazu zählt entscheidend auch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung.

Allerdings offenbart auch die Kommission selbst ein – vorsichtig ausgedrückt – eher schwach ausgeprägtes Verständnis von richterlicher Unabhängigkeit in ihrer Vorgehensweise, über ein Vertragsverletzungsverfahren, in dem letztlich der EuGH Richter in eigener Sache wäre, Druck auf das höchste deutsche Gericht aufzubauen. Dem entschieden entgegenzutreten, dazu sollte gerade die konfliktträchtige Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts Anlass geben. Dies fordert auch das Grundgesetz von den Verfassungsorganen der Bundesrepublik. Es verpflichtet sie ebenso auf deren Verfassungsidentität wie auf die Entwicklung einer rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten EU. Es wäre im Übrigen wünschenswert, dass die deutsche Politik mit gutem Beispiel voranginge und bei der demnächst anstehenden Entscheidung über die Neubesetzung einer Richterstelle im Zweiten Senat nicht der Versuchung nachgeben würde, auf das Kriterium erwartbarer größtmöglicher Konformität zur Integrationspolitik der Bundesregierung zu setzen.

Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig.