Anmerkung von
Rechtsanwalt Holger Grams, Kanzlei GRAMS Rechtsanwälte, Fachanwalt für Versicherungsrecht, München
Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 3/2024 vom 8.02.2024
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BGB §§ 823 II, 826; EG-FGV §§ 6 I, 27 I; ARB 2010 §§ 2, 3a, 4; ZPO § 114
Sachverhalt
Die Klägerin begehrt von der beklagten Rechtsschutzversicherung Kostendeckung für eine sogenannte "Diesel-Klage" wegen in dem von ihr erworbenen Fahrzeug angeblich verbauter, unzulässiger Abschalteinrichtungen sowie eines sogenannten "Thermofensters". Die Beklagte lehnte eine Deckungszusage mit Schreiben vom 17.09.2021 wegen fehlender Erfolgsaussichten ab.
Das Landgericht wies die Klage ab. Das OLG gab der Klage auf die Berufung der Klägerin hin teilweise, nämlich hinsichtlich der Geltendmachung von Ansprüchen wegen der behaupteten Implementierung eines unzulässigen Thermofensters, statt.
Rechtliche Wertung
Hinsichtlich der Geltendmachung von Ansprüchen wegen der behaupteten Implementierung eines Thermofensters könne der beklagte Rechtsschutzversicherer sich nicht auf fehlende Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung berufen, entschied das OLG.
Zum Zeitpunkt der Deckungsablehnung am 23.07.2021 habe nach der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder den Normen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht bestanden, weil die Normen nach Ansicht des BGH keinen Schutzgesetzcharakter aufwiesen (BGH, Urteil vom 25.02.2020 – VI ZR 252/19, BeckRS 2020, 10555). Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH sah der BGH keinen Anlass (BGH, Urteil vom 16.09.2021 – VII ZR 190/20, BeckRS 2021, 30607). Auch sei das Verhalten der für einen Kfz-Hersteller handelnden Personen nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einem Thermofenster ausgestattet hätten (BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, BeckRS 2021, 847).
In Folge einer Entscheidung des EuGH (Urteil vom 21.03.2023 - C-100/21, BeckRS 2023, 4652) hat der BGH jedoch entschieden, dass dem Käufer eines Fahrzeugs, das mit einem unzulässigen Thermofenster ausgestattet ist, unter den Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV gegen den Fahrzeughersteller ein Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens zustehen kann (BGH, Urteile vom 26.06.2023 - VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21, BeckRS 2023, 15117). Hiernach bestünden hinreichende Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung i.S.v. § 114 ZPO immerhin in der vom BGH vorgegebenen Differenzschadenhöhe von maximal 15% des gezahlten Kaufpreises. In diesem Umfang sei die Beklagte zur Gewährung von Rechtsschutz verpflichtet.
Zwar habe eine solche Klage im Zeitpunkt der Deckungsablehnung nach der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Es könne jedoch nicht ausschließlich auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife ankommen. Jedenfalls bei unverändertem Sachverhalt und unveränderter Vorschriftenlage müssten zugunsten des Versicherungsnehmers neue Entwicklungen der Rechtsprechung bei der Prüfung der Erfolgsaussichten berücksichtigt werden. Gegenteiliges lasse sich § 18 ARB nicht entnehmen. Eine derartige Einschränkung des Leistungsversprechens des Rechtsschutzversicherers sei auch unbillig. Dem Versicherungsnehmer würde Versicherungsschutz versagt, obwohl in der Sache hinreichende Erfolgsaussichten bestehen und nach der objektiv bestehenden - wenn auch erst später höchstrichterlich als solche erkannten - Rechtslage auch bereits zum Zeitpunkt der Deckungsablehnung bestanden haben.
Andererseits führe der Umstand, dass ggf. im Zeitraum zwischen der Verkündung der Urteile des EuGH und des BGH vertretbar habe angenommen werden können, dass ein (noch) weitergehender Anspruch auf "großen" Schadensersatz bestehe, jedenfalls dann, wenn – wie hier – die beabsichtigte "Diesel-Klage" noch nicht erhoben worden und noch keine Rechtsverfolgungskosten entstanden seien, nicht dazu, dass solche Erfolgsaussichten auch noch zum jetzigen Zeitpunkt dem Deckungsbegehren zu Grunde gelegt werden müssten. Ein Versicherungsnehmer könne keinen Anspruch auf Deckung betreffend eine noch zu erhebende Klage haben, die mangels Erfolgsaussichten zweifellos (teilweise) abzuweisen wäre.
Dies entspreche auch der Rechtslage im Prozesskostenhilferecht, die Leitbildfunktion für die Auslegung des versicherungsvertraglichen Merkmals der hinreichenden Erfolgsaussichten habe. Werde im Laufe eines PKH-Verfahrens eine zweifelhafte Rechtsfrage durch eine höchstrichterliche Entscheidung hinreichend geklärt, sei der Erkenntnisstand des Gerichts im Zeitpunkt der (letzten) Entscheidung über das PKH-Gesuch für die rechtliche Beurteilung maßgebend. Das Gericht dürfe die Erfolgsaussicht nicht wider bessere Erkenntnis bejahen. Der Bedürftige habe kein schutzwürdiges Interesse daran, dass ihm durch die Bewilligung der Prozesskostenhilfe die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens ermöglicht wird, das ihm keinen Erfolg bringen kann (BGH, Beschluss vom 27.01.1982 – IVb ZB 925/80, BeckRS 1982, 173).
Praxishinweis
Das OLG Hamm weicht mit seiner Entscheidung (so auch schon mit Urteil vom 05.05.2023 – 20 U 144/22, BeckRS 2023, 11113) von der wohl überwiegenden OLG-Rechtsprechung ab, die für die Bewertung der Erfolgsaussichten ausschließlich auf den Stand der Rechtsprechung im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsschutzversicherers über die Deckungsanfrage abstellt (z.B. OLG Nürnberg, Beschluss vom 16.03.2023 – 8 U 3296/22, BeckRS 2023, 4288; OLG Schleswig, Beschluss vom 21.06.2022 – 16 U 53/22, r s 2022, 512; OLG Bremen, Beschluss vom 09.11.2022 – 3 U 13/22, BeckRS 2022, 36434, Besprechung Günther in FD-VersR 2023, 454976). Dementsprechend ließ das OLG Hamm die Revision zu. Nach Information der Redaktion ist das Urteil jedoch rechtskräftig.
Die Bezugnahme des OLG Hamm auf die Maßstäbe im Prozesskostenhilferecht ist nach Ansicht des Verfassers überzeugend.
Offen gelassen hat das OLG Hamm die hier nicht entscheidungserhebliche Frage, ob in der Rechtsschutzversicherung etwas anderes als im PKH-Verfahren zu gelten hat, wenn die Klage (hier also die Diesel-Klage) bereits erhoben ist und deswegen bereits Kosten angefallen sind, bevor sich die Rechtsprechung zu Ungunsten des Rechtsschutzversicherten geändert hat. Insofern könnte man argumentieren, dass ein privatrechtlicher Versicherungsvertrag anders zu beurteilen sei als staatliche Prozesskostenhilfe.
OLG Hamm, Urteil vom 20.09.2023 – 20 U 240/22, BeckRS 2023, 29456