NJW-Editorial
Rechtspflege im digitalen Umbruch
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Das Jahr 2022 markiert mehrere Meilensteine bei der Digitalisierung der Rechtspflege. Den Auftakt machte die Anwaltschaft, die seit Jahresbeginn verpflichtend alle Schriftsätze elektronisch bei Gericht einreicht. Ebenfalls seit 1.1.2022 führen Notarinnen und Notare ihre Verzeichnisse nur noch elektronisch, die Urkundenrolle hat ausgedient. ­Anfang Juli folgte mit der elektronischen Urkundensammlung die vollständige Inbetriebnahme des Elektronischen Urkundenarchivs. Seitdem werden alle notariellen Urkunden digitalisiert und anschließend für 100 Jahre verschlüsselt in einer von der Bundes­notarkammer zur Verfügung gestellten Infrastruktur sicher verwahrt.

25. Aug 2022

Nur einen Monat später startete das notarielle Online-Verfahren. Seit dem 1.8.2022 kann eine GmbH-Gründung online beurkundet werden. Auch die Beglaubigung von ­Anmeldungen zum Handels-, Genossenschafts- und Partnerschaftsregister ist nun ­digital möglich. Die Bundesnotarkammer hat hierfür ein eigenes Portal entwickelt. Zur Identifizierung der Beteiligten werden mithilfe der „Notar-App“ die eID und das Lichtbild aus dem Chip des Ausweisdokuments ausgelesen. Dazu wird der Ausweis an das Smartphone gehalten. Das System prüft dabei automatisch, ob er gestohlen oder gefälscht wurde. Beurkundet wird in einer Videokonferenz, in der die Urkunde ­verlesen und offene Fragen geklärt werden. Am Ende folgt die Unterzeichnung. Hierbei tritt an die Stelle der Unterschrift eine qualifizierte elektronische Signatur, die das System auf Basis der eID für die Beteiligten erstellt.

Damit sind die Anwaltschaft und das Notariat bei der Digitalisierung wesentlich vorangeschritten. Doch wir bleiben in einer Phase des Umbruchs, in der noch nicht alle ­Räder ineinandergreifen. Klagen werden zwar elektronisch bei Gericht eingereicht, ­müssen dort aber häufig mangels elektronischer Akte ausgedruckt werden. Notarielle Urkunden werden zwar verpflichtend digitalisiert, müssen aber zum Vollzug meist noch in Papier an Behörden und Grundbuchämter versendet werden. Und Beurkundungen sind zwar online möglich, etwaige Vollmachten müssen aber weiter mangels elektro­nischer Ausfertigung in Papier vorgelegt werden, da § 172 BGB nur dann das Vertrauen in den Fortbestand der Vollmacht schützt.

Die dargestellten Brüche führen mitunter dazu, dass der einzelne Berufsträger in seiner täglichen Arbeit mehr den Aufwand und weniger den Nutzen der Digitalisierung sieht. Gewisse Frustrationen sind in dieser Übergangsphase verständlich. Erforderlich ist daher ein gemeinsamer Kraftakt: Anwaltschaft, Notariat, Gerichte und Gesetzgeber müssen an einem Strang ziehen. Auch zu Behörden, Kreditinstituten und nicht zuletzt zu den Bürgerinnen und Bürgern müssen digitale Brücken geschlagen werden. Nur so kann das Potenzial der Digitalisierung vollständig genutzt werden. Dann werden ihre Vorteile auch für den Einzelnen greifbarer.

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Prof. Dr. Jens Bormann ist Notar in Ratingen und Präsident der Bundesnotarkammer.