NJW: Sie bieten angehenden Juristen in zwei Projekten die Möglichkeit praktischer juristischer Arbeit. Um was geht es da genau und wie unterscheidet sich das eine von dem anderen Projekt?
Graser: Zum einen gibt es die Refugee Law Clinic (RLC), die 2015 gegründet wurde. In diesem Projekt sollen migrationsrechtliche Kenntnisse vermittelt werden, aber nicht nur das: Wichtig war uns von Anfang auch die konkrete Beratung Rechtsuchender, und da bringen wir es inzwischen auf viele Hundert Fälle. Zum anderen haben sich aus der RLC mehrere Folgeprojekte entwickelt. Eines davon ist die Strategic Litigation Unit (SLU). Hier geht es nicht um kleinere, außergerichtliche Beratungen, sondern um ausgesuchte größere Verfahren, die grundsätzliche Rechtsfragen aufwerfen und dann über längere Zeiträume hinweg bearbeitet werden. Dementsprechend handelt es sich bei der SLU um ein kleineres, intensiv zusammenarbeitendes Team von schon fortgeschritteneren Nachwuchsjuristinnen und -juristen.
NJW: Die SLU arbeitet gerade an einem prominenten Fall. Was können Sie uns dazu sagen?
Lindner: Wir sind an einem der beiden großen zivilrechtlichen „Brumadinho-Verfahren“ in Deutschland beteiligt. Brumadinho ist eine Stadt in Brasilien, in der im Jahr 2019 ein Damm eines mit Bergbau-Schlamm befüllten Absetzbeckens gebrochen ist. Dabei sind 272 Menschen ums Leben gekommen. Die Verantwortung dafür wird in vielen Verfahren aufgearbeitet, außer in Deutschland natürlich auch in Brasilien und inzwischen auch in den USA.
NJW: Um was geht es in dem deutschen Verfahren?
Lindner: Vor dem LG München I machen die Hinterbliebenen der Opfer Schadensersatzansprüche gegen die hier ansässige TÜV Süd AG geltend. Der Konzern hatte unter Beteiligung von Ingenieuren seiner brasilianischen Tochtergesellschaft kurz vor der Katastrophe noch die Sicherheit des Staudamms zertifiziert. Das hätte nicht geschehen dürfen, wenn die notwendigen Sicherheitsstandards angewendet worden wären, wie auch ein kriminaltechnisches Gutachten der brasilianischen Bundespolizei belegt. Der TÜV Süd hätte diese Katastrophe verhindern können und müssen. Wir vertreten 180 Kläger und Klägerinnen, die vorrangig immateriellen Schadensersatz fordern. Auf menschlicher Ebene besteht ein dringendes Bedürfnis unserer Mandantinnen und Mandanten, dass die Verantwortung für jenes monströse Unrecht ermittelt wird, das ihnen und ihren Familien widerfahren ist. Und das zeigt wiederum die politische Dimension auf: Es geht um das Verhältnis von globalem Norden und Süden, um die Haftung entlang internationaler Wertschöpfungsketten – und zugespitzt um die Frage, ob wir hier im entwickelten Norden weiterhin Profite in Schwellenländern machen, aber uns gleichzeitig hinter entsprechend konstruierten Konzernstrukturen vor den Haftungsrisiken verstecken können. Das moderne brasilianische Umwelthaftungsrecht lässt dies nicht weiter zu – und so liegt es an uns, dieses anzuwendende Recht vor dem zuständigen deutschen Gericht durchzusetzen.
NJW: Wie kam es, dass ausgerechnet Studierende der Uni Regensburg für Kläger aus Brasilien arbeiten?
Graser: Die SLU steht seit Anfang 2022 mit auf der Klägerseite, als deren deutscher Hauptprozessbevollmächtigter, Rechtsanwalt Dr. Rüdiger Helm, uns eingeladen hat, mitzumachen. Er kannte unsere Arbeit und suchte Unterstützung für dieses extrem arbeitsaufwändige Verfahren. Helm engagiert sich in diesem Fall, ohne dass seine Mandanten ihn bezahlen könnten. Das gilt im Übrigen auch für ein kontinuierlich wachsendes Netzwerk weiterer Mitstreiter.
NJW: Was können junge Juristen ohne praktische prozessuale Erfahrungen zu einem solchen Umfangsverfahren beitragen?
Graser: Mit der richtigen Anleitung enorm viel. Die Wege in der SLU sind kurz, die Struktur ist flexibel und die Teamarbeit steht im Vordergrund. Die komplexen (Prozess-)Rechtsfragen werden aufgearbeitet und in kleinere „Happen“ aufgeteilt. Dann arbeiten die Mitglieder wie später im eigenen Mandat: Sie recherchieren Rechtsfragen, entwerfen Textabschnitte für Schriftsätze etc. Speziell im Brumadinho-Verfahren kommen noch einige weitere Aufgaben hinzu: Es müssen auch tatsächliche Umstände recherchiert werden – von Weisungsketten im Konzern bis hin zu Sicherheitsmaßstäben für Staudämme – , der Kommunikationsfluss mit den Partnern in Brasilien muss aufrechterhalten und auch die Öffentlichkeit sollte informiert werden. Das Spektrum ist also durchaus vielfältig.
NJW: Wie kommt das bei den Mandanten an, dass Teil des Teams Jura-Studierende sind?
Lindner: Sehr gut! Im persönlichen Austausch mit den Klägern bei unserem ersten Verhandlungstermin wurde schnell klar: Uns verbindet Empathie und Vertrauen, uns eint die Leidenschaft für das Recht, in dem auch die Durchsetzung von etwas Gerechtigkeit liegt. Dennoch: Die Verteilung der materiellen Ressourcen zwischen den Prozessparteien könnte nicht ungleicher sein. So hätten wir unsere Klage eigentlich schon gar nicht erst erheben können, weil das Geld für die Gerichtskosten fehlte. Neben internationaler Unterstützung hat die deutsche Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IG BCE) Sicherheit dafür geleistet.
NJW: Das ist aber nicht die einzige Disparität in dem Verfahren, oder?
Lindner: Nein. Wenn alle unsere 180 Kläger ihre gesammelten Monatseinkommen kontinuierlich ausschließlich für diesen Prozess aufwenden würden, dann könnten sie damit gerade einmal einen der auf der Gegenseite agierenden Anwälte dafür bezahlen, dass er halbtags für sie arbeitet. Die TÜV Süd AG hat frühzeitig 33 Mio. Euro für die Rechtsverteidigung in den Brumadinho-Verfahren zurückgestellt. Man sieht daran, wie sich die Ungleichheiten entlang der globalen Wertschöpfungsketten auch bei den Chancen effektiver Rechtsverfolgung fortschreiben. Und wir spüren das Ressourcengefälle wirklich ganz konkret bei jedem Verfahrensschritt.
NJW: Was muss man in fachlicher und zeitlicher Hinsicht mitbringen, wenn man bei Ihnen mitarbeiten will?
Lindner: Gute Frage, denn gerade die zeitlichen Anforderungen können streckenweise hoch und nicht immer planbar sein. Aber das ist die perfekte Vorbereitung für das Berufsleben. Wenn man etwa noch etwas auf einen gegnerischen Schriftsatz replizieren muss, kann durchaus einmal eine Nachschicht nötig werden oder ein Wochenende draufgehen. Aber wenn man mal nicht kann, springen andere ein, und auf lange Sicht verteilt sich der Aufwand auch. Was die Vorkenntnisse angeht, bringt jedes Teammitglied den eigenen fachlichen Horizont ein und erweitert diesen kontinuierlich. Die meisten bewerben sich in der Mittelphase ihres Studiums für die SLU, oft nach vorheriger Arbeit in der Law Clinic. Wer so weit im Studium ist und zur SLU möchte, bringt automatisch Fach- und Methodenkenntnisse mit und hat Lust auf neue Herausforderungen.
NJW: Worin besteht der Nutzen für Studierende, wenn sie bei einem solchen Projekt mitarbeiten?
Graser: Typischerweise bekommt man Einblicke in einen Prozess dieses Ausmaßes frühestens nach einigen Jahren Praxis in einer Großkanzlei. Schon das würde die SLU-Arbeit zu etwas Besonderem machen. Aber wenn ich Lindners Team zuschaue, scheinen mir andere Aspekte noch wichtiger. Die Studierenden nehmen da viel mit in puncto Prioritätensetzung, Pragmatismus, Teamarbeit, Ausdauer – und die ungeheuer motivierende Erfahrung, die eigenen Rechtskenntnisse sozial wirksam einsetzen zu können.
Prof. Dr. Alexander Graser lehrt Öffentliches Recht an der Universität Regensburg. Seit 2015 betreibt sein Lehrstuhl eine Law Clinic für Flüchtlinge; ergänzt wird dieses Angebot seit über vier Jahren durch die Strategic Litigation Unit (SLU). Dr. Christoph Lindner ist Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg.
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