Urteilsanalyse
Rechtliches Gehör mit Dolmetscher im Vollstreckungsverfahren
Urteilsanalyse
Lorem Ipsum
© Stefan Yang / stock.adobe.com

Bei der Entscheidung über die Fortdauer des Maßregelvollzugs ist der in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Person rechtliches Gehör zu gewähren. Dem wird nach einem Beschluss des Kammergerichts vom 24.03.2020 nur angemessen entsprochen, wenn der Untergebrachte mündlich gehört wird und er sprachlich in der Lage ist, der Anhörung zu folgen sowie seine eigenen Erwägungen vorzubringen.

17. Jun 2020

Anmerkung von 
Rechtsanwalt Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 12/2020 vom 10.06.2020

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Strafrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Strafrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Strafrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

Sachverhalt

Wegen einer Vielzahl im Zustand der Schuldunfähigkeit begangener Delikte gegen das Leib und Leben wurde mit Urteil des LG Berlin am 2.7.2018 die Unterbringung des A in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, wo er sich seit der Rechtskraft der Entscheidung am 14.12.2018 befand. Anlässlich der ersten Fortdauerprüfung beraumte die Strafvollstreckungskammer einen Termin zur mündlichen Anhörung für den 20.11.2019 an. Im Verlauf dieser Anhörung beriet sich die Kammer dahin, dass ein neuer Termin mit Dolmetscher anberaumt werden sollte, weil bei A zumindest das Ausmaß des deutschen Sprachverständnisses unklar war. Zum neuen Anhörungstermin am 18.12.2019 wurde ein Dolmetscher für die chinesische Sprache geladen, der jedoch nicht erschien. Obwohl sich A nur in „bruchstückhaftem Deutsch" äußerte, hob die Strafvollstreckungskammer den Termin nicht erneut auf, sondern ordnete die Fortdauer des Maßregelvollzugs an. Hiergegen wendete sich A mit sofortiger Beschwerde und rügte die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, weil die Anhörung ohne Dolmetscher erfolgte.

Entscheidung

Das KG hob den Beschluss zur Fortdauer des Maßregelvollzugs auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurück. Die Anhörungen des A erfüllten nicht die Voraussetzungen einer umfassenden Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne des Art. 103 I GG. Aus §§ 463 III 1, 454 I 3 StPO folge, dass vor einer Fortdaueranordnung die in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Person mündlich anzuhören sei. Dies diene der bestmöglichen Sachverhaltsermittlung und gäbe dem Untergebrachten die Möglichkeit, seine Standpunkte unbefangen und ausführlich darzulegen. Voraussetzung hierfür sei es, dass der Untergebrachte den Kommunikationssträngen der Anhörung sprachlich folgen und seine Erwägungen in einer Sprache vorbringen könne, die ihm eine inhaltliche wie auch emotionale Differenzierung gestatten würde. Bei Bedenken, ob der Anzuhörende hierzu der deutschen Sprache hinreichend mächtig sei, müsse die mündliche Anhörung nach § 454 I 3 StPO unter Hinzuziehung eines Dolmetschers durchgeführt werden. Nach diesen Maßstäben hätte die Kammer das Ausbleiben des geladenen Dolmetschers am 19.12.2019 nicht zum Anlass nehmen dürfen, A nun doch ohne Übersetzungsmöglichkeiten anzuhören. Denn ausweislich des Anhörungsvermerks hätte sich A nur in „bruchstückhaftem Deutsch" geäußert, was ausschließe, dass er sich gegenüber dem Gericht differenziert erklären könne. Damit wären Zweifel begründet, ob die von der Kammer gewonnenen Erkenntnisse zur Persönlichkeit und zum Krankheitsbild des A auf authentischen Eindrücken beruhen würden.

Praxishinweis

Die effektive Gewährung rechtlichen Gehörs ist aus rechtsstaatlicher Sicht unabdingbar für die Legitimation einer dauerhaft freiheitsentziehenden Maßnahme. Dies gilt im Besonderen für die hier in Rede stehende zwangsweise Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass der vorliegende Beschluss des KG – soweit ersichtlich – die erste veröffentlichte Entscheidung darstellt, die explizit klarstellt, dass die für die Anordnung der Fortdauer des Maßregelvollzugs notwendige mündliche Anhörung gem. § 454 I 3 StPO nur dann den Anforderungen des Art. 103 I GG genügt, sofern der der deutschen Sprache nicht mächtigen Person ein Dolmetscher zur Verfügung stand (zur Anhörung gem. § 353 I 2 StPO aber OLG Hamm BeckRS 2009, 29383). Denn eine Vollstreckungskammer, die tatsächlich an Erkenntnissen zur Persönlichkeit und zum Krankheitsbild des Untergebrachten interessiert ist, kann diese nur in Erfahrung bringen, wenn der Betroffene sprachlich in der Lage ist, seine eigenen Erwägungen vorzubringen. Allerdings fundiert das KG seine Argumentation nicht dogmatisch und lässt offen, woraus sich der Anspruch auf Hinzuziehung eines Dolmetschers ableitet. Als Rechtsgrundlage kommen, da Art. 6 EMRK auf eine angeklagte Person abhebt und daher im Vollstreckungsverfahren nicht unmittelbar gilt (AG Montabaur NStZ 1997, 616; a.A. LG Mülhausen BeckRS 2011, 11936), letztlich nur § 185 GVG oder § 187 GVG in Betracht. Beide Normen lassen die Teilnahme eines Dolmetschers zu, unterscheiden sich jedoch in ihrer Verbindlichkeit: Während § 187 I 1 GVG die Zuziehung eines Dolmetschers davon abhängig macht, ob dies zur Ausübung strafprozessualer Rechte erforderlich ist, spricht § 185 I 1 GVG davon, dass bei Verhandlungen unter Beteiligung von Personen ein Dolmetscher zuzuziehen ist. § 187 GVG räumt dem Richter durch das dehnbare Merkmal der Erforderlichkeit somit eine Einschätzungsprärogative ein, die angesichts des mit der Fortdaueranordnung des Maßregelvollzugs einhergehenden Eingriffs in das Recht auf persönliche Freiheit alles andere als unproblematisch ist (vgl. MüKo-StPO/Oglakcioglu, § 187 GVG Rn. 24). Deshalb ist § 185 GVG mit seiner gebunden Rechtsfolge als Rechtsgrundlage für die Hinzuziehung des Dolmetschers anzusehen, obwohl zugegeben ist, dass eine mündliche Anhörung bei einem strengen rechtstechnischen Verständnis nicht mit einer Verhandlung gleichzusetzen ist. Freilich wird bei einer mündlichen Anhörung, ebenso wie im Rahmen einer Verhandlung, auf strafrechtlicher Ebene in einem Ober-/Unterverhältnis kommuniziert. Vor allem aber spricht für die Anwendung des § 185 GVG auf den vorliegenden Fall, dass unter anderem als Reaktion auf den Justizirrtum „Gustl Mollath" im Jahr 2016 das Recht der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB mit dem Ziel novelliert wurde, unverhältnismäßig lange Unterbringungen zu vermeiden und einen besseren prozessualen Schutz für den Untergebrachten zu etablieren (BGBl. I 2016, S. 1610; BT-Drs. 18/7244, S. 1 f.). Nimmt man diese gesetzgeberische Intention ernst, darf die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht in das richterliche Belieben gestellt werden, sondern muss bei einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Betroffenen auch im Vollstreckungsverfahren stets obligatorisch sein.

KG, Beschluss vom 24.03.2020 - 2 Ws 11/20, BeckRS 2020, 9380