NJW-Editorial
Recht 2023
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Was erwartet uns im Recht 2023? Ein Thema wird Rechtspolitik und Rechtspraxis – erneut –  besonders herausfordern: Die Justiz wird weiterhin stark unter Massenverfahren ächzen. Die geplante Abhilfeklage wird da nicht für Abhilfe sorgen. Stattdessen wird der Digitalisierungsdruck auf die Justiz weiter steigen.

5. Jan 2023

Über die freien Tage habe ich „Deutschland 1923“ von Volker Ullrich gelesen. Das Buch erscheint wie diese Zeitschrift im Verlag C.H.Beck (allerdings im Zweig Literatur, Sachbuch, Wissenschaft). Der Historiker erzählt darin die Geschichte dieses Jahres, in dem Deutschland am Abgrund stand. Die Lektüre drückt ­leider die Feiertagslaune, auch weil man sich mitunter an die Gegenwart erinnert fühlt, wenn etwa über massive Geldentwertung geschrieben wird, über den Verlust des Vertrauens in staatliche Institutionen und über Umsturzversuche radikaler Kräfte. Aber das Buch macht auch deutlich, dass die heutigen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse mit der damaligen singulären Konstellation nicht vergleichbar sind. Und dass sich an diesem Schlüsseljahr neben dem Ausmaß von Gefährdungen auch die Chancen einer Stabilisierung ablesen lassen. In einem ähnlichen Sinne darf man auch für Deutschland 2023 zuversichtlich sein. Wir haben uns in den gegenwärtigen Krisen bisher als resilient und flexibel erwiesen. Das Bekenntnis zu den Werten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes ist trotz aller Widrigkeiten stabil.

Was erwartet uns im Recht 2023? Ein Thema möchte ich herausgreifen, weil es Rechtspolitik und Rechtspraxis gleichermaßen herausfordern wird: Die Justiz wird noch ­stärker als bisher unter Massenverfahren ächzen. Der Diesel-Skandal ist längst nicht vorbei. Wenn der EuGH in der Rechtssache C-100/21 entscheidet, wie vom Generalanwalt vorgeschlagen, wird das nochmals eine Prozesslawine lostreten (hierzu Heese, NJW-aktuell H. 26/2022, 3). Eine weitere Klagewelle steht im Wirecard-Skandal an. Private und institutionelle Anleger werden zu Tausenden Ansprüche gegen den Wirtschaftsprüfer EY geltend machen, der mutmaßlich Luftbuchungen in Milliardenhöhe in der Bilanz­prüfung nicht aufgeklärt hatte. Hierfür hat die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz gemeinsam mit zwei Kanzleien eine Stiftung nach niederländischem Recht gegründet. Sie soll den Geschädigten eine schnellere und bessere Entschädigungs­lösung bringen als etwa ein Kapitalanlegermusterverfahren, das langwierig ist und bei dem die Gerichte bisher uneinheitlich darüber urteilten, wann Anlegern dieser Weg ­gegen Wirtschaftsprüfer offensteht.

Die Massenklagen werden den Digitalisierungsdruck auf die Justiz weiter erhöhen. Sie muss daher parallel zur Einführung der E-Akte Lösungen entwickeln, mit denen sie diese Verfahren effizient führen kann (s. hierzu auch das Interview auf S. 12 von NJW-­aktuell in diesem Heft). Von der sogenannten Abhilfeklage, die in Umsetzung der europäischen Verbandsklagerichtlinie eingeführt werden soll (obwohl die Frist hierfür im Dezember letzten Jahres ablief, hängt der Gesetzentwurf seit längerem in der Ressortabstimmung fest), darf man sich insoweit nicht viel erwarten. Auch wenn sie anders als die Musterfeststellungsklage auch auf Leistung gerichtet ist, wird sie in der jetzigen Konzeption massenhafte Individualklagen nicht verhindern.

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Rechtsanwalt Tobias Freudenberg ist Schriftleiter der NJW, Frankfurt a.M..