Anmerkung von
Prof. Dr. Annika Dießner, HWR Berlin und Of Counsel bei Ignor & Partner GbR, Berlin
Aus beck-fachdienst Strafrecht 01/2021 vom 07.01.2021
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Sachverhalt
Bei den Strafverfolgungsbehörden war ein Schreiben einer unbekannten Person eingegangen, die behauptete, der bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene Beschwerdeführer (B) und dessen Verwandte hätten mit Geld eines „Familienclans“ Immobilien in Deutschland und der Türkei erworben. Der Hinweisgeber beschreibt in dem Schreiben die Wohnverhältnisse des B und seiner Familienmitglieder und behauptet darin: „In jeder von diesen Wohnungen gibt es scharfe Waffen.“ Nähere Hinweise zu den Waffen und dazu, warum der Hinweisgeber hierzu Angaben machen kann, fehlen. In dem Schreiben wird auch behauptet, B verfüge über ein Bankschließfach, in dem sich viel Geld und Gold befinde. Auf der Basis der Angaben in dem Brief leiteten die Strafverfolgungsbehörden gegen B ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Waffenbesitzes ein. Eine zeugenschaftliche Vernehmung des Verfassers des Schreibens fand nicht statt. Die Behauptung, der B verfüge über ein Bankschließfach wurde von den Ermittlungsbehörden verifiziert.
Die StA hat in der Folge einen Durchsuchungsbeschluss betreffend die Wohnräume des B sowie einen weiteren zur Durchsuchung des Bankschließfachs erwirkt. Darin heißt es, es sei aufgrund von Tatsachen zu vermuten, dass die Durchsuchung zum Auffinden von Waffen bzw. Munition führen werde. B wendet sich gegen die vollzogenen Beschlüsse mit der Beschwerde.
Entscheidung
Das LG stellt fest, dass die angefochtenen Beschlüsse rechtswidrig ergangen sind.
Die Kammer führt aus, anonyme Hinweise seien zwar zur Begründung des für eine Durchsuchung erforderlichen Anfangsverdachts nicht per se ausgeschlossen; angesichts des erhöhten Risikos einer Falschverdächtigung müssten diese Behauptungen allerdings besonders sorgfältig überprüft werden. In dem Zusammenhang sei der sachliche Gehalt des Schreibens zu überprüfen; außerdem sei relevant, welche Gründe es für eine anonyme Mitteilung geben könne.
Für eine eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahme wie die Durchsuchung komme eine anonyme Anzeige als tatsächliche Grundlage nur dann in Betracht, wenn diese von „beträchtlicher sachlicher Qualität“ sei bzw. im Zusammenhang mit ihr „schlüssiges Tatsachenmaterial“ vorgelegt werde. Das LG führt wörtlich aus: „Die anonyme Anzeige erreicht sachlich nicht eine solche Qualität, dass ein hinreichender Anfangsverdacht für Durchsuchungsanordnungen hinsichtlich des Verstoßes gegen das Waffengesetz gegen den Beschuldigten besteht.“
Praxishinweis
Als Leserin der Entscheidung merkt man beim Begriff „hinreichender Anfangsverdacht“ auf, lernt (und lehrt) man doch, dass der Anfangsverdacht als niedrigste der Verdachtsstufen streng vom Begriff des hinreichenden Tatverdachts abzugrenzen ist. Offenbar trennt die Kammer hier zwischen dem Anfangsverdacht, der die Einleitung des Ermittlungsverfahrens nach sich zieht und der Schwelle für eine Durchsuchung nach § 102 StPO. Mir erschließt sich diese Trennung nicht.
Die grundsätzliche Skepsis, die die Entscheidung anonymen Anzeigen entgegenbringt, ist hingegen uneingeschränkt nachvollziehbar. Jede Strafverteidigerin und jeder Strafverteidiger weiß aus der Praxis von gehörnten Ehepartnern, im Streit geschiedenen Mitarbeitenden oder neidischen Konkurrentinnen bzw. Konkurrenten zu berichten, die über den Umweg einer anonymen Falschbeschuldigung Rache für (vermeintliches) Unrecht jenseits des Strafrechts üben wollen. Dem stehen die Konstellationen gegenüber, in denen Personen nicht anders können, als einen strafrechtlich relevanten Missstand anonym zur Anzeige zu bringen. Eben diese Ambivalenz der möglichen Motivlagen von anonymen Anzeigenden hat auch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung (BeckRS 2016, 50709) anerkannt, auf die das LG Hildesheim Bezug nimmt. Vorliegend ist die vom Bundesverfassungsgericht zu Recht geforderte besondere Qualität einer anonymen Anzeige nicht gegeben. Vielmehr ging die Anzeige, soweit es den Vorwurf des unerlaubten Waffenbesitzes betraf, über formelhafte Wendungen nicht hinaus („In jeder von diesen Wohnungen gibt es scharfe Waffen.“).
Die Vorgehensweise der Strafverfolgungsbehörden scheint bei wertender Betrachtung der Behauptungen in dem Schreiben auch weniger von dem Bestreben getragen gewesen zu sein, einen Fall des unerlaubten Waffenbesitzes aufzuklären, als vielmehr von der Motivation, der in dem Schreiben mitklingenden, weitaus gravierenden Behauptung nachzugehen, bei B handele es sich wahlweise um einen Geldwäscher bzw. um jemanden, der „Clan-Gelder“ - und damit der Abschöpfung zugängliches Vermögen - in Immobilien investiert. Hätte die Durchsuchung entsprechende Beweise zu Tage gefördert, hätte freilich ein gezielter Zufallsfund vorgelegen (hierzu näher Park, Durchsuchung und Beschlagnahme, Rn. 425 f.).
LG Hildesheim, Beschluss vom 27.10.2020 - 26 Qs 61/20 (AG Hildesheim), BeckRS 2020, 33040