Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 11/2022 vom 27.05.2022
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Sachverhalt
Der Kläger ist als Softwareentwickler tätig. Gemäß dem Rahmenvertrag über eine freie Mitarbeit hat ihn ein IT-Unternehmen an einen größeren Konzern im Rahmen eines „Projekts für die Erstellung von Individualsoftware“ vermittelt. Tageshonorar: 524 EUR; Vergütung wird kalendermonatlich im Nachhinein unter Vorlage eines vom Auftraggeber abgezeichneten Tätigkeitsnachweises abgerechnet. In einem Einzelvertrag findet sich eine „Tätigkeitsbeschreibung“ über die professionelle Entwicklung von Software im agilen Scrum-Prozess sowie die Umsetzung von „Entwicklung-Storys im Scrum-Prozess“ einschl. Teilnahme an „Daily-Scrums, Sprint-Plannings, Sprint-Reviews sowie Sprint-Retrospective“. Auf den Antrag des Klägers, gem. § 7a SGB IV die Selbständigkeit dieser Tätigkeit zu bestätigen, erging nach Anhörung des Klägers und seines Vertragspartners der angefochtene Bescheid der DRV Bund. Danach werde die Tätigkeit des Klägers im Bereich Entwicklung und Weiterentwicklung im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt. Im Rahmen der ausgeübten Tätigkeit seien keine maßgeblichen eigenen Gestaltungsmöglichkeiten erkennbar. Der Kläger erhalte einen Projektauftrag und sei somit in das vorhandene Netzwerk des Endkunden eingebunden. Er arbeite nicht im eigenen Namen und auf eigene Rechnung und rechnet auch nicht selbst mit dem Kunden ab. Es bestehe auch kein Unternehmerrisiko. Widerspruch und Klage dagegen blieben erfolglos. Der Kläger habe seine Tätigkeit im Rahmen von Besprechungen abstimmen müssen und sei bei der tatsächlichen Umsetzung nicht weisungsfrei gewesen, unbeschadet der Tatsache, dass er sich die einzelnen Arbeitspakete im Rahmen des Projekts habe frei auswählen könne.
Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers, der die Weisungsfreiheit hervorhebt. Da die Kundenanforderungen nicht von vornherein bekannt und über längere Zeiträume feststehen, sondern den Veränderungen der technischen und sonstigen Spezifikationen folgten, werde auch die laufende Anpassung des Programms in oft kurzen Abständen erforderlich, insbesondere dann, wenn eine Modellreihe neu auf den Markt komme. Diese Dynamik in den Kundenanforderungen spiegele sich in der Arbeitsmethode wider.
Entscheidung
Das LSG hebt das Urteil und die angefochtenen Bescheide auf und stellt fest, dass der Kläger bei seiner Tätigkeit als Programmierer für die Beigeladene ab dem 01.01.2018 selbstständig tätig war und nicht der Versicherungspflicht unterlag. Nach den vom BSG zur Auslegung des § 7 SGB IV entwickelten Maßgaben sei eine Eingliederung des Klägers in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers nicht festzustellen. Der Kläger habe zwar in den Räumen seines Auftraggebers gearbeitet. Dies war jedoch den sicherheitstechnischen Gegebenheiten geschuldet, welche eine Arbeit über einen Remote-Zugriff in den eigenen Arbeitsräumen des Klägers nicht erlaubten. Diese Umstände sind jedoch bei grundsätzlich sicherheitsrelevanten Arbeiten an Datenstrukturen im Unternehmensbereich üblich und aus Sicherheitsgründen auch oftmals unumgänglich.
Nach den konkreten Umständen überwiegen im Falle des Klägers die für Selbständigkeit sprechenden Umstände: er konnte die Arbeitspakete selbst aussuchen; die Ergebnisse wurden in einen separaten Entwicklungszweig eingestellt; die Programmierung erfolgte anhand von 2-Wochen-Sprints nach der Scrum-Methode – eine agile Methodik im Bereich Projektmanagement. Der Kläger verfügt über Spezialkenntnisse; der Beigeladene erteilte keine weiteren Vorgaben bis zur Abnahme der Programmkomponenten. Dass die Implementierung in das System des Endkunden von der Abnahme durch den zuständigen Fachbereich abhängt, ist der Komplexität und den hohen Sicherheitsanforderungen geschuldet und indiziert daher nicht per se eine Eingliederung des Programmierers in den Betrieb des Kunden.
Praxishinweis
1. Nicht nur die Privatwirtschaft – Dienstleister, Banken, Schwerindustrie etc. – auch die Verwaltungen sind auf Softwareentwickler wie den Kläger dringend angewiesen. Sie suchen händeringend nach solcher Art Manpower. Das Tageshonorar von 524 EUR spricht Bände. Dass der Kläger über „Spezialwissen“ verfügte, reicht nicht aus, um seine Tätigkeit als selbständig zu qualifizieren. Offensichtlich gelang es dem Kläger, zur Überzeugung des Gerichtes nachzuweisen, dass der hier seiner Tätigkeit zugrundeliegende „Scrum-Prozess“ einerseits und andererseits seine Darstellung nach außen unternehmerisches Handeln und Selbstbewusstsein ausstrahlen. Die nun seit 01.04.2022 gem. § 7a Abs. 6 Satz 2 SGB IV auf Antrag mögliche mündliche Anhörung über den Widerspruch eröffnet also durchaus die Chance, bei der Clearingstelle ein tiefergehendes Verständnis für die zu beurteilende Tätigkeit zu erreichen.
2. Die Scrum-Methode auf die das LSG hier abstellt, wird u.a. von Kühn/Ehlenz, in CR 2018, 139 und Günther/Büglmüller, NZA 2019, 417 näher erläutert. Wesentliches Merkmal ist die Abschaffung von Hierarchien. Ob das auch im Lichte der neueren Rechtsprechung des BSG ausreicht, um den Status als Selbständigen nachzuweisen, bedarf noch weitergehender Diskussion. Das Urteil des 12. Senats vom 14.03.2018 (FD-SozVR 2018, 412960) und die Ergänzung in § 7a Abs. 2 Satz 2 SGB IV um die Prüfung, ob auch Dritte als Arbeitgeber in Betracht kommen, sollte zu einem vorsichtigen Verhalten veranlassen.
3. Im Tenor bestätigt das LSG den Parteien die Selbständigkeit der Tätigkeit des Klägers als Programmierer ab dem 01.01.2018, also ohne zeitliche Befristung. Nach den Urteilsgründen hat der Kläger auch über den 30.06.2018 hinaus entsprechende Projektaufgaben übernommen. Das bis zum 30.06. befristete Projekt war ursprünglich Anlass für die Statusfeststellung. Kläger und beigeladener Dienstleister haben immer wieder auf verschiedene Arbeitspakete und die Weiterentwicklung der Programmiersprache hingewiesen. Das Urteil des LSG könnte also eine besondere Form der „gutachterlichen Äußerung“ im Sinne des neuen § 7a Abs. 4b SGB IV darstellen.
Kläger und beigeladener Dienstleister könnten ihrerseits bei der Clearingstelle unter Vorlage der LSG-Entscheidung beantragen, dass weitere Projektaufträge auf Basis des Rahmenvertrages wie er der gerichtlichen Entscheidung zugrunde lag, ebenfalls in Form der Selbständigkeit ausgeübt werden. Der Dienstleister könnte ferner eine gutachterliche Äußerung darüber erbitten, dass andere Softwareentwickler, die auf Basis des wortgleichen Rahmenvertrages künftig entsprechende Projekte bearbeiten, ebenfalls als Selbständige anzusehen sind. Dann könnte in der Tat die Arbeitsweise, wie sie hier als „agiler Scrum-Prozess“ beschrieben wird, von wesentlicher Bedeutung sein. Die Frage ist nun, ob die Feststellung im LSG-Urteil als den Anspruch auf gutachterliche Äußerung auslösende Entscheidung „in einem Einzelfall“ i.S.d. § 7a Abs. 4 b SGB IV anzusehen ist. Wenn ja, muss sich die Clearingstelle fragen, auf welche „Umstände der Ausübung“ zusätzlich abzustellen ist, um in Parallelfällen die Selbständigkeit gutachterlich feststellen zu können. Vorliegend verfügte der Kläger über „Spezialkenntnisse“, nämlich betreffend eine bestimmte Programmiersprache. Ob es darauf wirklich für die Abgrenzung selbständig / nicht selbständig ankommen kann, erscheint eher zweifelhaft.
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2021 - L 8 BA 1374/20, BeckRS 2021, 50064