NJW-Editorial
Praktikabilität, nicht Gerechtigkeit

Für einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach dem UVG ist nach einem neuen Urteil des BVerwG maßgeblich, dass der Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt, dieses nicht zu 40 % oder mehr betreut. Nach Einschätzung von Prof. Dr. Christopher Schmidt führt dies zu einer Erweiterung des Kreises der Leistungsberechtigten und schafft ein höheres Maß an Rechtssicherheit. In unserem Editorial mahnt er die Ampelkoalition, dies bei der angekündigten Reform des Unterhaltsrechts zu berücksichtigen.

11. Jan 2024

Das BVerwG hat mit Urteil vom 12.12.​2023 (5 C 9.22) entschieden, dass für einen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach dem UVG maßgeblich sei, dass der Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt, dieses nicht zu 40 % oder mehr betreut. Rechtlicher Anknüpfungspunkt ist § 1 I Nr. 2 UVG, der für einen Anspruch auf UVG-Leistungen voraussetzt, dass das Kind (nur) bei einem Elternteil lebt. Die schriftlichen Urteilsgründe liegen allerdings noch nicht vor.

Bisher hatte die Rechtsprechung eine Einzelfallbetrachtung vorgenommen, bei der in der Regel darauf abgestellt wurde, ob das Kind zu mehr als zwei Dritteln von einem Elternteil betreut wurde. Die Entscheidung führt deshalb zu einer Erweiterung des Kreises der Leistungsberechtigten und schafft ein höheres Maß an Rechtssicherheit.

Das mag man zunächst begrüßen, soll doch das UVG Alleinerziehende entlasten und trennungsbedingte Nachteile verringern. Allerdings ist eine Übernivellierung zu vermeiden, bei der Alleinerziehende gegenüber gemeinsam betreuenden Eltern bessergestellt werden. Insoweit hätte berücksichtigt werden müssen, dass auch in intakten Familien Care-Aufgaben und Erwerbstätigkeit in der Regel ungleich verteilt sind – was etwa durch eine Allensbach-Studie für das im Jahr 2023 veröffentlichte Familienbarometer des BMSFJ bestätigt wurde.

Damit gilt auch hier: Rechtssicherheit und Verwaltungspraktikabilität sind das eine, gerechte Lösungen das andere. Die schematische Anwendung von § 1 I Nr. 2 UVG durch das BVerwG verdeutlicht den Reformbedarf, den das Bundesjustizministerium vor Kurzem hinsichtlich des Unterhaltsrechts aufgegriffen hat. Das Ganz-oder-gar-nicht-Prinzip bei (zivilrechtlichen) Unterhaltspflichten und (öffentlich-rechtlichen) Unterhaltsvorschussleistungen blendet nicht nur die geänderte Lebenswirklichkeit von Familien aus. Es führt darüber hinaus zu Ungerechtigkeiten zwischen den Eltern. Denn ein erweitertes Umgangsrecht kann nach der familienrechtlichen Rechtsprechung zwar im Rahmen der Bedarfsbemessung beim Kindesunterhalt berücksichtigt werden, ändert aber nichts an der Anwendbarkeit von § 1606 III 2 BGB.

Gleichzeitig, und das ist mit Blick auf das Kindeswohl schlimmer, schaffen die bestehen­den Regelungen einen Anreiz für den überwiegend betreuenden Elternteil, einem zusätzlichen Umgang nicht zuzustimmen, wenn dadurch UVG- oder Unterhaltsansprüche entfielen. Das wird mit Blick auf den vom BVerwG entschiedenen Fall deutlich: Unterstellt man, dass der Vater die Kinder dort (wie üblich) neben dem regelmäßigen Umgang während der hälftigen Schulferien betreut hat, würde bereits ein zusätzlicher Betreuungstag im Kalenderjahr dazu führen, dass die 40-%-Marke erreicht wäre. Daher sollte die Reform des Unterhaltsrechts vor dem UVG nicht Halt machen.

Prof. Dr. Christopher Schmidt lehrt Familien- sowie Kinder- und Jugendrecht an der Hochschule Esslingen.