NJW: Wie kann es sein, dass eine namhafte WP-Gesellschaft offenbar Luftbuchungen in Milliardenhöhe nicht als solche erkannt hat?
Lenz: Die bislang vorliegenden Informationen, beispielsweise der Bericht über die Sonderuntersuchung von KPMG vom April 2020 oder der vorläufige Bericht des Insolvenzverwalters, deuten darauf hin, dass der Konzernabschlussprüfer von Wirecard – trotz vorliegender deutlicher Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in Artikeln der Financial Times – die Abschlüsse bis 2018 nicht sorgfältig und gründlich genug geprüft hat. Es besteht ein begründeter Verdacht auf Berufspflichtverletzungen, das heißt der Nichteinhaltung gesetzlicher Vorschriften und Prüfungsstandards.
NJW: Was genau wird mit einem Testat bestätigt?
Lenz: In einem uneingeschränkten Testat nach § 322 III HGB – wie im Fall Wirecard bis zum Geschäftsjahr 2018 – bestätigt der Abschlussprüfer, dass die von ihm durchgeführte Prüfung zu keinen Einwendungen geführt hat und dass der von den gesetzlichen Vertretern der geprüften Gesellschaft aufgestellte Jahres- oder Konzernabschluss aufgrund der bei der Prüfung gewonnenen Erkenntnisse den gesetzlichen Vorschriften und bei Beachtung der maßgeblichen Rechnungslegungsgrundsätze (beispielsweise HGB oder IFRS) ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens oder Konzerns vermittelt. Weiter bestätigt der Abschlussprüfer nach § 322 VI HGB, dass der Lagebericht oder der Konzernlagebericht den gesetzlichen Vorschriften entspricht und ein zutreffendes Bild von der Lage des Unternehmens oder des Konzerns einschließlich einer zutreffenden Darstellung der Chancen und Risiken der zukünftigen Entwicklung vermittelt.
NJW: Wie verlässlich sind diese Testate, wenn es immer wieder passiert, dass versierte Prüfer selbst über Jahre hinweg mutmaßlich kriminelle Machenschaften nicht bemerken?
Lenz: Die Prüfung des Konzernabschlusses ist nach § 317 I 3 HGB so anzulegen, dass Unrichtigkeiten und Verstöße gegen Rechnungslegungsvorschriften, die sich wesentlich auf die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage auswirken, bei gewissenhafter Berufsausübung erkannt werden. Von einer Abschlussprüfung kann nicht erwartet werden, dass sie mit absoluter Sicherheit jede Bilanzmanipulation aufdeckt. Allerdings ist unbestritten, dass der Gesetzgeber in § 317 I 3 HGB in Bezug auf die Aufdeckung von bewussten Falschdarstellungen eine „positive Suchverantwortung“ des Abschlussprüfers verankert hat. Kommt der Abschlussprüfer diesen Anforderungen – konkretisiert durch einschlägige Prüfungsstandards – nach, dann erhöht sich die Verlässlichkeit der Testate.
NJW: Wer genau kontrolliert die Prüfer in welchem Umfang? Welche Rolle spielen jeweils WPK, APAS und DPR? Sollte Letztere nun ganz abgeschafft werden – Stichwort: private enforcement?
Lenz: Für die Berufsaufsicht über rund 70 Abschlussprüfer, die circa 1.070 Unternehmen von öffentlichem Interesse prüfen, ist die Abschlussprüferaufsichtsstelle (APAS) – eine unabhängige Behörde – zuständig. Die Aufsicht über die Abschlussprüfer, die rund 43.000 Abschlussprüfungen bei privaten Unternehmen durchführen, liegt bei der Wirtschaftsprüferkammer (WPK), deren Tätigkeit wiederum mit Letztverantwortung von der APAS überwacht wird. Die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) ist nicht für die Überwachung von Abschlussprüfern zuständig; sie prüft anlassbezogen, auf Verlangen der BaFin bzw. in Stichproben Abschlüsse und Lagebericht kapitalmarktorientierter Unternehmen auf Verstöße gegen Rechnungslegungsvorschriften. Bei Verdacht auf Berufspflichtverletzungen von Abschlussprüfern erfolgt ein Hinweis an die APAS. Die Causa Wirecard zeigt deutlich, dass eine private Einrichtung ohne hoheitliche Befugnisse nicht geeignet ist für Fälle, bei denen anlassbezogen aufgrund von konkreten Hinweisen auf Bilanzdelikte geprüft werden muss.
NJW: Also muss sich hier etwas ändern?
Lenz: Die Transparenz über Ablauf und Ergebnisse von Qualitätskontrollen, Inspektionen und Berufsaufsichtsverfahren der APAS und der WPK sollte erhöht werden. Beispielweise sollten Inspektionsergebnisse und Sanktionen gegen Abschlussprüfer nicht wie gegenwärtig anonymisiert, sondern mit namentlicher Nennung der Abschlussprüfer bzw. Abschlussprüfungsgesellschaften erfolgen. Zudem bestehen die Sanktionen der APAS bislang ganz überwiegend aus Rügen und kleineren Geldbußen; die „erzieherische Wirkung“ für den Berufsstand ist damit eher gering. In Bezug auf die DPR sollte erwogen werden, die Bilanzkontrolle vollständig auf die BaFin zu übertragen.
NJW: Wie ist es um die Unabhängigkeit der Wirtschaftsprüfer von ihren Mandanten bestellt?
Lenz: In der Öffentlichkeit und von Investoren werden immer wieder Zweifel an der Unabhängigkeit von Wirtschaftsprüfern geäußert. Es ist dem Berufsstand nicht gelungen, eine nachhaltige Reputation als „Vertrauensdienstleister“ aufzubauen.
NJW: Brauchen wir eine sauberere Trennung zwischen Beratungs- und Prüfungsleistungen, damit die Prüfungsgesellschaft nicht zugleich beraten bzw. allenfalls prüfungsnahe Beratungsleistungen erbringen darf?
Lenz: Zur Stärkung der Unabhängigkeit sollten die Wahlrechte der Mitgliedstaaten in Art. 5 III EU-Abschlussprüferverordnung 537/2014 zukünftig nicht mehr in Anspruch genommen werden. Die in § 319a HGB enthaltenen Regelungen führen zu Auslegungsproblemen und potenziellen Gefährdungen der Unabhängigkeit. Steuerberatungs- und Bewertungsleistungen sollten deshalb generell im Katalog der verbotenen Nichtprüfungsleistungen verbleiben.
NJW: Warum wird der Prüfer ab einem bestimmten Umsatz nicht von einem unabhängigen Dritten statt vom Unternehmen selbst bestellt?
Lenz: Das wäre ein zu starker Eingriff in die Rechte der Gesellschafter bzw. Aktionäre, die den Abschlussprüfer wählen. Denkbar wäre es, bei kapitalmarktorientierten Gesellschaften der BaFin bei Bedenken gegenüber dem gewählten Abschlussprüfer ein Widerspruchsrecht – wie derzeit schon bei Banken und Versicherungsunternehmen möglich – einzuräumen.
NJW: Nach jedem Bilanzskandal werden eine strengere Zwangsrotation sowie eine Pflicht zu gemeinsamen Prüfungen durch zwei WP-Gesellschaften diskutiert. Was meinen Sie?
Lenz: Zu kurze Rotationsfristen verringern die Prüfungsqualität, weil mit jedem Wechsel Wissen verloren geht. Gemeinschaftsprüfungen (joint audits) wären bei Unternehmen von öffentlichem Interesse eine erwägenswerte Alternative, um die Marktmacht der „Big Four“ in diesem Segment zu begrenzen und in Verbindung mit einer Dritthaftungsregelung für fahrlässige Berufspflichtverletzungen die Qualität der Abschlussprüfungen zu erhöhen.
NJW: Der Prüfungsmarkt für große Unternehmen wird praktisch von einem Oligopol der „Big Four“ beherrscht, der große Rest der Branche wäre dafür auch schlicht ungeeignet. Muss man nicht eingestehen, dass der Berufsstand in zwei ganz verschiedene Berufsbilder zerfällt und das Gros sich kaum noch vom „vereidigten Buchprüfer“ unterscheidet?
Lenz: Vereidigte Buchprüfer dürfen nur mittelgroße GmbH oder KapG & Co. prüfen (§ 319 I 2 HGB), der Zugang zu dem Beruf wurde 2005 geschlossen. Auf der Anbieterseite des Prüfungsmarkts lassen sich vier Gruppen unterscheiden: die „Big Four“; eine Gruppe von zehn bis fünfzehn größeren Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die Teil eines internationalen Netzwerkes sind; mittelständische, rein nationale Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Wirtschaftsprüfer, die nur in eigener Praxis tätig sind. In den beiden letzten Gruppen sind viele Wirtschaftsprüfer tätig, die aufgrund der hohen regulatorischen Erfordernisse keine gesetzlichen Abschlussprüfungen mehr durchführen und sich auf Steuerberatungs-, Buchführungs- und sonstige Beratungsleistungen beschränken. •
Prof. Dr. Hansrudi Lenz hat den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsprüfungs- und Beratungswesen an der Universität Würzburg inne. Nach dem Abschluss zum Diplom-Kaufmann an der FU Berlin im Jahr 1979 war er sowohl wissenschaftlich wie auch in Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und bei der Treuhandanstalt tätig. Im Jahr 1994 habilitierte er sich.