NJW: Wie wichtig ist es, dass die Senatsvorsitzenden an den obersten Bundesgerichten vor ihrer Ernennung mehrere Jahre als Revisionsrichter tätig waren?
Vorwerk: Die Antwort ergibt sich aus ihren Aufgaben und ihrer Stellung im Senat: Sie sind die sogenannten Flaschenhälse in der Bearbeitung der Revisionssachen. Durch ihre Hände gehen alle Verfahren, die von den Berichterstattern vorbereitet werden. Sie prüfen deren Voten und arbeiten die streitentscheidenden Rechtsfragen heraus. Das erfordert eine vertiefte Kenntnis der Sachgegenstände, die nach dem Geschäftsverteilungsplan in die Zuständigkeit des entsprechenden Senats fallen.
NJW: Müsste dann nicht aber das Vorsitzendenamt immer aus dem jeweiligen Senat heraus besetzt werden?
Vorwerk: Das wäre aus meiner Sicht die beste Lösung. Dann kennt der oder die Vorsitzende die Zusammenhänge der Rechtsprechung im jeweiligen Zuständigkeitsbereich und die Dogmatik, die die Judikatur dieses Senats prägt. Wenn er oder sie sich erst einarbeiten muss, dauert es nach der Beobachtung von uns Anwälten schon mal bis zu zwei Jahre, bis er oder sie die Rolle des oder der Vorsitzenden gut ausüben kann. Der Vorsitz lässt sich aber nicht immer aus dem Kreis der Senatsmitglieder besetzen, etwa weil dort Kompetenzen fehlen, die ein Vorsitzender auch erfüllen muss, oder diese von Richterinnen und Richtern aus anderen Senaten so viel besser erfüllt werden, dass die Fachkenntnisse in jeweiligen Rechtsgebiet für die Zeit der Einarbeitung dahinter zurückstehen müssen.
NJW: Kann nicht aber auch die Außenperspektive für ein Bundesgericht und die Senate ganz befruchtend sein? Kandidatinnen und Kandidaten mit einschlägigen Rechtskenntnissen lassen sich doch auch außerhalb finden.
Vorwerk: Der Frage liegt eine typische Fehlvorstellung der Außenwelt zugrunde. Die Kenntnis des materiellen Rechts hilft, die Kenntnis des komplexen Revisionsrechts ist hingegen unverzichtbar. Die Tätigkeit etwa beim BGH unterscheidet sich von der Rechtsanwendung, wie sie etwa der Tatrichter vornimmt, so grundlegend, dass man für die wichtige Position der Senatsvorsitzenden die Außenperspektive nicht stets als befruchtend bezeichnen kann.
NJW: Gilt das aus Ihrer Sicht auch für die Präsidentinnen und Präsidenten sowie deren Vize?
Vorwerk: Das hängt davon ab, in welchem Umfang sie neben den Repräsentations- und Verwaltungsaufgaben die richterliche Tätigkeit als Senatsvorsitzende ausüben. Beim BGH hat die Präsidentin oder der Präsident kraft gesetzlicher Regelung den Vorsitz im Anwaltssenat und traditionell auch den Vorsitz im Kartellsenat. Beide Senate behandeln Materien, in denen nicht allzu viele mündliche Verhandlungen stattfinden. Außerdem hat sich hier, insbesondere im Kartellsenat, herausgebildet, dass die stellvertretenden Vorsitzenden im Wesentlichen den Vorsitz führen. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass die Besetzung des Präsidentenamtes mit einem erfahrenen Richter des Gerichts vorzugswürdig ist.
NJW: Wäre eine Absenkung des Anforderungsprofils für Senatsvorsitzende geeignet, die politische Einflussnahme auf die Besetzung dieser Ämter zu erleichtern?
Vorwerk: Zunächst: Die Einflussnahme auf die Auswahl der Richter über ein politisch mitbestimmtes Wahlorgan ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die Richterschaft sollte schließlich politisch so pluralistisch besetzt sein wie die Gesellschaft. Mit der Möglichkeit, einen Vorsitzenden von außen auszuwählen, kann das Ministerium aber leichter als bisher eine Auswahl nach primär parteipolitischen Erwägungen treffen. Und da heißt es: Wehret den Anfängen. Zumal diese Politisierung in der Folge auf das ganze Gericht durchschlagen kann.
NJW: Inwiefern?
Vorwerk: Der oder die Vorsitzende schreibt auch die Zeugnisse der Senatsmitglieder. Darüber kann er einzelne Richterinnen und Richter protegieren, womit er wiederum die Besetzung von Vorsitzendenämtern in anderen Senaten beeinflussen kann.
NJW: Es heißt immer, auch der oder die Vorsitzende habe im Senat nur eine Stimme. Warum ließe sich durch deren Auswahl auch die Rechtsprechung politisch beeinflussen?
Vorwerk: Die Vorsitzenden haben im Senat mehr Einfluss auf die Rechtsprechung als die beisitzenden Richter, schon allein deshalb, weil sie alle Akten kennen. Hinzu kommt: Sie bestimmen auch die Arbeitsweise. Es ist zum Beispiel bekannt, dass ein ehemaliger Senatsvorsitzender beim BGH ihm vorgelegte Voten der Berichterstatter, die er nicht geteilt hat, nicht an die anderen Senatsmitglieder weitergegeben hat, sondern sogleich Gegenvoten geschrieben hat, die dann mit dem Vorschlag des Berichterstatters Grundlage der Beratung waren. Der Vorsitzende hat also auch auf diese Art und Weise großen Einfluss auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung im Spruchkörper.
NJW: Werden die "einfachen" Richterstellen an den obersten Bundesgerichten zu oft nach politischen Erwägungen vergeben? Hinter vorgehaltener Hand wird von Fällen berichtet, in denen ein Parteibuch wichtiger gewesen sein soll als die fachliche Kompetenz.
Vorwerk: Es mag solche Fälle gegeben haben, entscheidend ist aber, dass die Richterschaft beim BGH insgesamt ausreichend pluralistisch und fachlich kompetent besetzt ist. Das ist aus meiner Sicht der Fall.
NJW: Empfiehlt sich dennoch eine Änderung des Wahlverfahrens? Auf Landesebene gehören etwa in Schleswig-Holstein dem Richterwahlausschuss neben mehreren Landtagsabgeordneten auch drei Richter, von denen mindestens einer aus dem jeweiligen Gerichtszweig kommen muss, sowie ein Rechtsanwalt an.
Vorwerk: Bislang sind wir mit den unterschiedlich zusammengesetzten Richterwahlausschüssen in den Ländern und dem des Bundes gut gefahren, insbesondere deshalb, weil dort weitgehend Konsens herrscht, dass die Auswahl der Richterinnen und Richter nicht ausschließlich politisch erfolgen darf. Außerdem haben wir gesehen, dass sich die Richter in ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit gedanklich von den Parteien, die sie gewählt haben, entfernt haben. Aber auch hier gilt: Wir müssen wachsam sein, dass die parteipolitische Einflussnahme dort nicht zunimmt, damit wir nicht - wenn auch erst in zehn oder 20 Jahren - ähnliche Verhältnisse haben wie in den USA oder in Polen.
NJW: Sind die vielen Konkurrentenklagen eine Folge der Wahlverfahren?
Vorwerk: Konkurrentenklagen werden erhoben, weil man nicht hinnehmen will, dass man nicht in ein Amt kommt, für das man geeignet wäre, weil ein anderer ebenso geeignet oder aus subjektiver Sicht schlechter ist. Dabei spielt auch persönlicher Ehrgeiz eine Rolle. In einigen Fällen habe ich aber Kenntnis davon, dass sehr stark politisch tendiert ausgewählt worden ist und sich dann ein zurückgesetzter Kandidat mit der Konkurrentenklage dagegen gewehrt hat - meistens zu Recht dann auch mit Erfolg.
NJW: Gibt es im Ausland Beispiele für bessere Lösungen bei der Richterwahl?
Vorwerk: Wir stehen im internationalen Vergleich sehr gut da, auch wenn man Extreme politischer Einflussnahme wie derzeit in Polen außer Acht lässt. In der Schweiz etwa, an deren Rechtsstaatlichkeit wir keine Zweifel haben, werden die Bundesrichter ausschließlich parteipolitisch ausgewählt. Soweit mir berichtet wird, macht sich das auch in der Spruchpraxis bemerkbar. Die Schweiz scheint damit klarzukommen, aber unsere Bundesrichterwahl scheint mir im Vergleich dazu doch eindeutig vorzugswürdig. .
Prof. Dr. Volkert Vorwerk ist nach Tätigkeit als Justiziar und Leiter der Rechts- und Patentabteilung eines pharmazeutischen Unternehmens sowie als Anwalt am OLG Celle seit 1995 Rechtsanwalt beim BGH. Zudem ist er Honorarprofessor an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Prozess- und Anwaltsrecht) und Vorstandsmitglied des Deutschen Anwaltvereins e.V.