Interview
Politisierte Personalpolitik
Interview
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Beim Bundesverfassungsgericht dreht sich gerade das Personalkarussell. Neben Änderungen im Präsidenten- und Vizepräsidentenamt stehen in beiden Senaten Richterwechsel an. Für den Zweiten Senat hat der Bundesrat bereits Astrid Wallrabenstein gewählt, die Nachfolge von Johannes Masing im Ersten Senat ist mehr als zwei Monate nach dem Ablauf seiner Amtszeit noch immer umstritten. Das drängt Fragen zum Wahlverfahren auf, die wir dem Bonner Staatsrechtslehrer Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz gestellt haben.

8. Jun 2020

NJW: Zunächst mal ganz generell: Ist die Wahl der Bundesverfassungsrichter sinnvoll geregelt?

Gärditz: Meines Erachtens ja. Die Wahl mit Zweidrittelmehrheiten im Wahlausschuss des Bundestags und im Bundesrat (§ 6 I 2, § 7 BVerfGG) zwingt zu Kompromissen, die eine weltanschaulich ausgewogene Besetzung des Gerichts gewährleisten. Das hat bislang sehr gut funktioniert. Auch ist es durchweg gelungen, eine öffentliche Politisierung der Wahlen zu vermeiden, durch die die Autorität des Gerichts leicht beschädigt werden könnte. Eine politische Polarisierung der Richterwahl wie etwa am US Supreme Court ist uns hierdurch erspart geblieben. Man sollte jedoch die bislang nur einfach-gesetzlichen Wahlverfahren verfassungsrechtlich absichern.

NJW: Sehen Sie auch Defizite?

Gärditz: Nicht ganz glücklich ist die gegenwärtige Überdominanz der Staatsrechtslehre auf der Richterbank, die es so früher nicht gegeben hat. Derzeit entstammen acht der 16 Richterinnen und Richter den hauptamtlichen Professorinnen und Professoren des Öffentlichen Rechts, bis November 2018 waren es sogar neun. Das bedingt eine professionelle Perspektivenverengung. Expertise im Verfassungsrecht ist nicht nur an Universitäten vorhanden. Und umgekehrt ist gerade die Staatsrechtswissenschaft traditionell besonders politisiert. Das wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Außerdem kann das kritische Potenzial der Pluralität des Gerichts durch zu enge professionelle Netzwerke unterlaufen werden. Man kennt sich, man bleibt unter sich. Wenn man Vielfalt ernst nimmt, sollte man auch das breite Reservoir unterschiedlicher Berufsgruppen etwas besser nutzen. Oftmals gerät auch der Bedarf an Sonderwissen innerhalb der getrennt arbeitenden Senate aus dem Blick. Für den Zweiten Senat wurde eine herausragende Sozialrechtlerin gewonnen. Das – in seiner praktischen Bedeutung kaum zu überschätzende – Sozialrecht liegt aber beim Ersten Senat. Dort ist wiederum die strafrechtliche Expertise gebündelt, die im für das Strafrecht zuständigen Zweiten Senat fehlt.

NJW: Die Richterwahl ist vor einigen Jahren reformiert worden. Die acht vom Bundestag zu wählenden Richterinnen und Richter werden nicht mehr von einem zwölfköpfigen Wahlausschuss direkt gewählt, sondern vom Plenum. Das hat in der Sache nicht viel geändert, oder?

Gärditz: Es kommt auf die Perspektive an. Die Plenarwahl dient der besseren Legitimationssicherung und hat zudem eine symbolische Funktion. Der Deutsche Bundestag übernimmt insgesamt Verantwortung für Personalentscheidungen, die für unser Verfassungsleben von zentraler Bedeutung sind. Dies wurde durch die Reform erreicht. Derzeit geht es ohnehin um Stellen, die vom Bundesrat zu besetzen sind; da hat sich am Wahlverfahren nichts geändert.

NJW: Über die Nachfolge von Johannes Masing wird in der SPD öffentlich gestritten. Schadet das dem Ansehen des Gerichts?

Gärditz: Wahrscheinlich. Der Streit wirkt irritierend unprofessionell. Wie man durch kluge Personalpolitik herausragende Persönlichkeiten gewinnen kann, ohne diese oder das Gericht zu beschädigen, hat sich jüngst im Zweiten Senat gezeigt, wo eine Bundesratsstelle auf Vorschlag der Grünen nachzubesetzen war. Bei der offenen Nachbesetzung im Ersten Senat kommt es hingegen völlig unnötig zu einer Politisierung, die mit etwas Disziplin vermeidbar gewesen wäre. Bemerkenswert ist auch, wie sich einzelne Printmedien – unter Verlust journalistischer Distanz – eher plump an gezielten Kampagnen für einzelne Personen beteiligen, die hierdurch eher beschädigt werden. Hieraus wird man hoffentlich für künftige Verfahren lernen.

NJW: Ostdeutsche Bundesländer favorisieren einen Richter mit einer Ostbiografie, der vom BVerwG nur mäßig bewertet wurde. Muss nicht Fachkompetenz immer an erster Stelle stehen?

Gärditz: Fachkompetenz ist relativ. Neben der handwerklichen Professionalität muss das Gericht auch eine hinreichende Pluralität abbilden, also auf unterschiedliche Berufs- und Lebenserfahrungen zugreifen können. Dabei spielen legitimerweise auch repräsentationspolitische Erwägungen eine Rolle. Im Übrigen sollte man punktuelle Beurteilungen eines Präsidialrats nicht überbewerten. So wie man auch nicht ohne Weiteres Staatsrechtslehrerinnen und -lehrern pauschal die Fachkompetenz unterstellen kann, ein Richteramt überzeugend auszufüllen. Es kommt eben auf die einzelnen Personen an. Ob es hierbei dann glücklich ist, ihrerseits sehr inhomogene Ostbiografien identitär zu überhöhen, darf man bezweifeln. Was ist eigentlich mit Menschen mit Migrationsbiografie?

NJW: Die reguläre Amtszeit von Johannes Masing ist inzwischen schon länger als zwei Monate beendet. Diesen Fall regelt § 7a BVerfGG. Kam er schon oft zur Anwendung?

Gärditz: Kommt die Wahl nicht binnen zwei Monaten nach Ablauf der regulären Amtszeit zustande, wird das BVerfG aufgefordert, eine eigene Liste für die Wahl vorzulegen. Die Regelung wurde 1956 in das BVerfGG eingefügt, weil es im Kontext der hochpolitischen Verfahren um die Wiederbewaffnung und den deutschen Wehrbeitrag zu längeren Blockaden gekommen war. Die Regelung kam seitdem gelegentlich zur Anwendung. Meist dürfte aber der informelle Austausch zwischen Politik und Gericht das formale Verfahren überlagern.

NJW: Das klingt so, als hätte die Norm heute eher symbolischen Charakter?

Gärditz: Die Regelung ist insgesamt missglückt. Schon aus Gründen demokratischer Legitimation, auf die das BVerfG wegen seiner weitreichenden Entscheidungsmacht besonders angewiesen ist, sollte es aus den Prozessen, die beiden Richterbänke zu ergänzen, vollständig herausgehalten werden. Informale Einflüsse, personelle Empfehlungen zu ventilieren, gibt es ohnehin. Zudem kann auch das BVerfG politische Entscheidungsunfähigkeit kaum beheben.

NJW: Kommt es oft vor, dass Richter lange „nachsitzen“ müssen?

Gärditz: Die Notwendigkeit hierzu kommt immer wieder vor, zumal im politischen Berlin Personalentscheidungen am BVerfG nicht immer die höchste Priorität genießen. Zuletzt musste 2018 im Ersten Senat der Richter Eichberger knapp drei Monate über das reguläre Ende seiner Amtszeit hinaus die Amtsgeschäfte fortführen.

NJW: Das BVerfG stellt das lange Warten auf neue Richter vor ganz praktische Probleme. Wichtige Verfahren im vakanten Dezernat liegen brach, weil man sie ansonsten nach dem Richterwechsel neu beginnen müsste. Sollte man so etwas nicht verhinden, etwa durch Fristen für die Wahl?

Gärditz: Fristen wirken hilflos, wenn man an die Fristüberschreitung keine Rechtsfolgen knüpfen kann. Notwendig ist eine positive Personalwahl, zu der man aber weder Bundestag noch Bundesrat zwingen kann. Ein automatisches Ausscheiden aus dem Amt würde zwar Druck erzeugen. In einer längeren Staatskrise, in der es besonders auf ein handlungsfähiges Gericht ankommt, würde dies aber das Risiko bergen, dass das BVerfG durch personelles Ausbluten faktisch gelähmt wird. Um die verfassungsrechtlich gebotene Funktionsfähigkeit des Gerichts sicherzustellen, wird man an der bestehenden Regelung festhalten müssen. •

Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz ist seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zwischen seiner Promotion und Habilitation jeweils in Bonn war er als Verwaltungsrichter in Rheinland-Pfalz und als Rechtsanwalt tätig. Seit Juli 2014 ist er stellvertretendes Mitglied des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, seit März 2015 im Nebenamt Richter am OVG Münster.

Interview: Tobias Freudenberg.