Urteilsanalyse
Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers zur Einladung schwerbehinderter Bewerber erstreckt sich auf alle Elemente des Auswahlverfahrens
Urteilsanalyse
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Ein nicht offensichtlich ungeeigneter schwerbehinderter Bewerber ist nach einem Urteil des BAG zu allen Teilen eines Auswahlverfahrens einzuladen, durch welche sich der öffentliche Arbeitgeber ein umfassendes Bild von der Person des Bewerbers macht.

11. Feb 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Steffen Krieger, Gleiss Lutz, Düsseldorf

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 06/2021 vom 11.02.2021

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Sachverhalt

Der Kläger bewarb sich mit Schreiben vom 21.11.2016 – unter Hinweis auf seine Schwerbehinderung – auf die vom Bau- und Liegenschaftsbetrieb des beklagten Landes ausgeschriebene Stelle einer „Fachbereichsleitung Marketing und Kommunikation in der Zentrale“. Mit E-Mail des beklagten Landes vom 12.12.2016 wurden der Kläger und fünf weitere Bewerber zu einem Auswahlgespräch am 22.12.2016 eingeladen. Im Anschluss an das Auswahlgespräch lud das beklagte Land zwei Bewerberinnen zur Teilnahme an einer Potenzialanalyse ein. Dem Kläger wurde mitgeteilt, dass man ihn „bei der Auswahl der Stellenbesetzung nicht in die engere Wahl gezogen“ habe. Der Kläger ging gegen die Nichteinladung zur Potenzialanalyse im Wege der einstweiligen Verfügung vor. Zur Erledigung des einstweiligen Verfügungsverfahrens schlossen die Parteien am 6.1.2017 einen gerichtlichen Vergleich, in dem sich das beklagte Land verpflichtete, den Kläger zur Teilnahme an der Potenzialanalyse einzuladen. Am 31.1.2017 nahm der Kläger an der durch einen Dienstleister durchgeführten Potenzialanalyse teil. Wenige Tage später teilte das beklagte Land dem Kläger mit, dass die Stelle nicht mit ihm besetzt werde.

Der Kläger verlangt von dem beklagten Land Zahlung einer Entschädigung nach § 15 II AGG aufgrund einer Benachteiligung wegen seiner Behinderung im Auswahlverfahren. ArbG und LAG wiesen die Klage ab.

Entscheidung

Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Nach Ansicht des BAG hat der Kläger einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 II AGG. Da der Kläger für die ausgeschriebene Stelle nicht berücksichtigt wurde, sei er unmittelbar i.S.d. § 3 I AGG benachteiligt worden. Die Benachteiligung sei wegen seiner (Schwer)Behinderung erfolgt, weil ihn das beklagte Land entgegen seiner Verpflichtung nach § 82 S. 2 SGB IX a.F. nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hat. Das beklagte Land sei seiner Verpflichtung, den schwerbehinderten Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, nicht bereits dadurch nachgekommen, dass es diesen zu dem Auswahlgespräch am 22.12.2016 eingeladen hat. Es hätte den Kläger auch zu der Potenzialanalyse einladen müssen. Der Begriff „Vorstellungsgespräch“ in § 82 S. 2 SGB IX sei nicht eng im Sinne eines Gesprächs, in dem sich der Bewerber einmalig vorstellt, zu verstehen, sondern weit auszulegen. Er umfasse – auch bei mehrstufigen Auswahlprozessen – grundsätzlich alle Instrumente im Verfahren der Personalauswahl unabhängig von ihrer Bezeichnung (z.B. als Auswahlgespräch, Test, Assessment Center, Interview etc.), der angewandten Methode (z.B. biografie-, test- oder simulationsorientierte Verfahren) und der konkreten Durchführungsform (z.B. Rollenspiele, Fallbeispiele, Ad-hoc-Präsentationen etc.), die nach der eigenen Konzeption des Arbeitgebers erforderlich sind, um sich einen umfassenden Eindruck von der fachlichen und persönlichen Eignung des Bewerbers zu machen. Dies folge aus einer am Sinn und Zweck orientierten Auslegung des Begriffs „Vorstellungsgespräch“ in § 82 S. 2 SGB IX unter Berücksichtigung der in Art. 5 der RL 2000/78/EG sowie in Art. 5 II, Art.  27 I, II Unterabs. 3 UN-BRK getroffenen Bestimmungen.

Das beklagte Land könne sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, ein etwaiger Verstoß gegen § 82 S. 2 SGB IX a.F. sei durch die nachträgliche Einladung des Klägers zur Teilnahme an der Potenzialanalyse geheilt worden. Das beklagte Land habe sich erst im Rahmen des vom Kläger eingeleiteten einstweiligen Verfügungsverfahrens durch gerichtlichen Vergleich verpflichtet, den Kläger nachträglich zu der Potenzialanalyse einzuladen. Nach st. Rspr. des Senats könne der Verstoß gegen § 82 S. 2 SGB IX a.F. nicht nachträglich „geheilt“ oder „beseitigt“ werden.

Praxishinweis

Die Entscheidung liegt auf der Linie der st. Rspr. des BAG zur Indizwirkung einer Verletzung von Pflichten des Arbeitgebers zum Umgang mit Bewerbungen schwerbehinderter Menschen für eine Benachteiligung i.S.d. AGG. Weil die für öffentliche Arbeitgeber geltenden Regelungen des § 82 SGB IX sicherstellen sollen, dass schwerbehinderte Bewerber die Chance erhalten, den Arbeitgeber von ihrer Eignung zu überzeugen, ist es konsequent, dass das BAG den Begriff „Vorstellungsgespräch“ weit interpretiert und die Einladungspflicht auf alle Teile eines ggfs. mehrstufigen Auswahlprozesses erstreckt.

BAG, Urteil vom 27.08.2020 - 8 AZR 45/19 (LAG Düsseldorf), BeckRS 2020, 37420