Urteilsanalyse

Pflicht des Ar­beit­ge­bers zur Zu­lei­tung der Mit­tei­lung über eine be­ab­sich­tig­te Mas­sen­ent­las­sung an die Ar­beits­agen­tur ist nicht in­di­vi­du­al­schüt­zend
Urteilsanalyse
SM_urteil_CR_FM2_adobe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
SM_urteil_CR_FM2_adobe

Die in Art. 2 III Un­terabs. 2 der RL 98/59/EG (MERL) vor­ge­se­he­ne Ver­pflich­tung des Ar­beit­ge­bers, der zu­stän­di­gen Be­hör­de eine Ab­schrift zu­min­dest der in Art. 2 III Un­terabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v MERL ge­nann­ten Be­stand­tei­le der schrift­li­chen Mit­tei­lung zu über­mit­teln, hat nach Mei­nung des EuGH nicht den Zweck, den von Mas­sen­ent­las­sun­gen be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mern In­di­vi­du­al­schutz zu ge­wäh­ren.

1. Aug 2023

An­mer­kung von
RA Dr. Stef­fen Krie­ger, Gleiss Lutz, Düs­sel­dorf

Aus beck-fach­dienst Ar­beits­recht 29/2023 vom 27.07.2023

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Ar­beits­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Ar­beits­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Ar­beits­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de.

Sach­ver­halt

Der Be­klag­te ist In­sol­venz­ver­wal­ter in einem 2019 er­öff­ne­ten In­sol­venz­ver­fah­ren über das Ver­mö­gen der In­sol­venz­schuld­ne­rin, bei wel­cher der Klä­ger seit 1981 an­ge­stellt war. Im Ja­nu­ar 2020 wurde die voll­stän­di­ge Ein­stel­lung des Ge­schäfts­be­triebs der In­sol­venz­schuld­ne­rin zum 30.4.2020 be­schlos­sen. Be­ab­sich­tigt war zu­gleich die Ent­las­sung aller 195 Ar­beit­neh­mer. Auf­grund des Still­le­gungs­be­schlus­ses fan­den mit dem Be­triebs­rat Ver­hand­lun­gen über den Ab­schluss eines In­ter­es­sen­aus­gleichs und So­zi­al­plans statt. Au­ßer­dem wurde das wegen der Mas­sen­ent­las­sung er­for­der­li­che Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren gem. § 17 II KSchG ver­bun­den mit dem In­ter­es­sen­aus­gleichs­ver­fah­ren durch­ge­führt. Ent­ge­gen § 17 III 1 KSchG, der Art. 2 III Un­terabs. 2 MERL um­setzt, wurde der zu­stän­di­gen Agen­tur für Ar­beit keine Ab­schrift der das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren ein­lei­ten­den an den Be­triebs­rat ge­rich­te­ten Mit­tei­lung gem. § 17 II KSchG über­mit­telt. Eine Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der Agen­tur für Ar­beit wurde er­stat­tet. Dem Klä­ger ge­gen­über wurde da­nach, genau wie allen an­de­ren Ar­beit­neh­mern, zum 30.4.2020 die Kün­di­gung aus­ge­spro­chen. Der Klä­ger erhob Kün­di­gungs­schutz­kla­ge unter Be­ru­fung auf die Un­wirk­sam­keit der Kün­di­gung wegen des Ver­sto­ßes gegen § 17 III 1 KSchG. Das BAG legte dem EuGH die Frage zur Vor­ab­ent­schei­dung vor, ob Art. 2 III Un­terabs. 2 MERL in­di­vi­du­al­schüt­zen­den Cha­rak­ter hat.

Ent­schei­dung

Der EuGH ent­schied, die Pflicht, der zu­stän­di­gen Be­hör­de eine Ab­schrift zu­min­dest der in Art. 2 III Un­terabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v MERL ge­nann­ten Be­stand­tei­le der schrift­li­chen Mit­tei­lung an die Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tung zu über­mit­teln, be­zwe­cke nicht den In­di­vi­du­al­schutz der von Mas­sen­ent­las­sun­gen be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer. Die in der MERL vor­ge­se­he­ne Über­mitt­lung von In­for­ma­tio­nen an die zu­stän­di­ge Be­hör­de diene nur zu In­for­ma­ti­ons- und Vor­be­rei­tungs­zwe­cken. Ihr Zweck be­stehe darin, es der Be­hör­de zu er­mög­li­chen, die ne­ga­ti­ven Fol­gen be­ab­sich­tig­ter Mas­sen­ent­las­sun­gen so­weit wie mög­lich ab­zu­schät­zen, damit sie, wenn ihr diese Ent­las­sun­gen an­ge­zeigt wer­den, in ef­fi­zi­en­ter Weise nach Lö­sun­gen für die da­durch ent­ste­hen­den Pro­ble­me su­chen könne. In An­be­tracht die­ses Zwecks und der Tat­sa­che, dass die Über­mitt­lung in einem Sta­di­um er­folgt, in dem der Ar­beit­ge­ber die Mas­sen­ent­las­sung nur be­ab­sich­tigt, solle sich die zu­stän­di­ge Be­hör­de nicht mit der in­di­vi­du­el­len Si­tua­ti­on jedes ein­zel­nen Ar­beit­neh­mers be­fas­sen, son­dern die be­ab­sich­tig­ten Mas­sen­ent­las­sun­gen all­ge­mein be­trach­ten. Das in Art. 2 MERL vor­ge­se­he­ne Recht auf In­for­ma­ti­on und Kon­sul­ta­ti­on zu Guns­ten der Ar­beit­neh­mer sei als Ge­mein­schaft aus­ge­stal­tet und kol­lek­ti­ver Natur.

Pra­xis­hin­weis

Aus der Be­ant­wor­tung der Vor­la­ge­fra­ge durch den EuGH er­gibt sich ohne Wei­te­res, dass § 17 III 1 KSchG nicht Schutz­ge­setz i.S.d. § 134 BGB ist. Die un­ter­las­se­ne Zu­lei­tung der Mit­tei­lung an die Agen­tur für Ar­beit führt daher nicht zur Un­wirk­sam­keit der aus­ge­spro­che­nen Kün­di­gun­gen.

Un­klar ist, ob die Ent­schei­dung des EuGH dar­über hin­aus auch Re­le­vanz für an­de­re Feh­ler im Mas­sen­ent­las­sungs­ver­fah­ren hat, z.B. eine nicht ord­nungs­ge­mä­ße Durch­füh­rung des Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren nach § 17 II KSchG oder eine feh­ler­haf­te Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge nach § 17 I KSchG. Das BAG (FD-ArbR 2023, 457606) hat ein bei ihm an­hän­gi­ges Ver­fah­ren, in dem es der be­klag­te Ar­beit­ge­ber un­ter­las­sen hatte, Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge zu er­stat­ten, nach § 148 ZPO aus­ge­setzt, um die vor­lie­gen­de Ent­schei­dung des EuGH ab­zu­war­ten. Es hat an­ge­kün­digt, auf der Grund­la­ge der Recht­spre­chung des EuGH über­prü­fen zu wol­len, ob das von ihm ent­wi­ckel­te Sank­ti­ons­sys­tem, nach dem Feh­ler bei der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge zur Un­wirk­sam­keit der Kün­di­gung füh­ren, im Ein­klang mit der Sys­te­ma­tik des durch die MERL ver­mit­tel­ten Mas­sen­ent­las­sungs­schut­zes steht. So­weit das BAG meint, die Aus­füh­run­gen des EuGH hät­ten nicht nur für die Pflicht zur Zu­lei­tung der Mit­tei­lung nach § 17 II KSchG an die Agen­tur für Ar­beit son­dern auch für an­de­re Feh­ler im Mas­sen­ent­las­sungs­ver­fah­ren Be­deu­tung, müss­te es seine Recht­spre­chung än­dern, nach der Folge eines Feh­lers im Mas­sen­ent­las­sungs­ver­fah­ren die Un­wirk­sam­keit der Kün­di­gung nach § 134 BGB sein soll.

EuGH, Ur­teil vom 13.07.2023 - C-134/22 (BAG), BeckRS 2023, 16848